Frauen mit Pudel
Text – Harry Walter — 20.06.2025
Sich pudelwohl fühlen kann vieles bedeuten. Unter anderem, dass man jetzt endlich mal sein eigenes Herrchen oder Frauchen ist und die Seele wie eine Hüpfburg empfindet, in der man sich lustvoll von einer Gummiwand zur anderen schnellen lassen kann. So von der Leine gelassen, hat man/frau oft die seltsamsten Einfälle.
Zwei Frauen unterschiedlicher Statur haben etwas Pudelartiges so in Szene gesetzt, als bilde es ihren Lebensmittelpunkt. Um nicht mit dem Schmutz von Straße und Fußboden assoziiert zu werden, ist das putzige Wesen eigens auf den Präsentierteller gehoben worden. Auf dem kleinen runden Tischchen begegnen sich nun Pfoten und Hände. Das zottige, übers rechte Auge hängende Fell ist mit den gestärkten weißen Krägen so wenig kompatibel wie mit den wie aufgegossen wirkenden, an Wanderdünen erinnernden Frisuren, deren strenger Wellenschlag allerdings mit dem Schnitzwerk des Lehnstuhls harmoniert.
Die eher matronenhafte Figur links hat ihren filigran geschwungenen Stuhl nur halb in Besitz genommen, während die eher Zartgliedrige in ihrem riesigen, irgendwie neobarocken Lehnstuhl fast zu verschwinden droht, was an sich schon eine komische Note ins Bild bringt. Durch ihre betont aufrechte Haltung, mit durchgedrücktem Kreuz und nach vorne gereckter Brust, demonstrieren beide Frauen ein Maximum an Körperbeherrschung, die sich auf das Pudelding übertragen zu haben scheint.
Dennoch zeigt sich auf den Gesichtern der beiden Damen ein Anflug von Heiterkeit, was wohl damit zusammenhängt, dass sie diesem auf jeden Fall zu den Gesellschafts- und Begleithunden zählenden Wesen die Rolle des Familienoberhaupts zugewiesen haben, und zwar so, als wollten sie zu verstehen geben, dass gerade diese zentrale Position beliebig substituierbar ist – Hauptsache, das in Frage kommende Ersatzsubjekt verhält sich dabei so repräsentativ wie möglich.
Und tatsächlich: Im Rahmen seiner Möglichkeiten scheint es dem Irrwisch gelungen zu sein, in der Pose wilhelminischer Selbstüberschätzung nachhaltig zu erstarren. Als hätte er begriffen, was von ihm verlangt wird, wirkt er ganz so, als sei er bereits ausgestopft – oder als hätte eine in pompösem Kitsch gefangene Epoche auf einen Schlag ihren geheimen Kern offenbart und in Tierform aus sich hervortreten lassen. Das auf seinem Sockel ausgestellte Schoßhündchen könnte genauso gut Herrscherfigur oder gar Gottheit sein. Unergründlich, wie leicht das eine Bild in das andere umschlagen kann.
Obwohl doch im Pudel der Wolf kaum mehr zu erkennen ist, hat sich das Dämonische keineswegs aus ihm verzogen, sondern vielleicht nur ins penetrant Süßliche fortentwickelt. Die Verhaustierung eines ursprünglich in Rudeln lebenden Raubtiers erreicht ihr Maximum, wenn uns aus einem Fellknäuel heraus zwei freundliche Knopfaugen anschauen und wirklich uns damit meinen. Die zu den verschiedensten Zwecken herangezüchteten Hunderassen haben derart viel Menschliches in sich aufgenommen, dass es ein Wunder wäre, wenn sie davon nicht auch beschädigt worden wären.
Wenn der Philosoph, Misanthrop und Pudelnarr Arthur Schopenhauer seinen Pudel namens «Butz» ausschimpfen wollte, soll er ihn «Mensch», im Falle eines Lobs «Atman» (Seele) genannt haben. Diese Doppelnatur seines «Butz» mag ihm auch vorgeschwebt haben, als er den Tieren generell attestierte, vereinfachte Ausgaben unserer selbst zu sein: «Dass uns der Anblick der Tiere so sehr ergötzt, beruht hauptsächlich darauf, dass es uns freut, unser eigenes Wesen so vereinfacht vor uns zu sehn.»
«Dass uns der Anblick der Tiere so sehr ergötzt, beruht hauptsächlich darauf, dass es uns freut, unser eigenes Wesen so vereinfacht vor uns zu sehn.» –Arthur Schopenhauer
In einer Anwandlung forcierter Neugier hatte mein Schulfreund eines Tages vor unseren Augen seinem geliebten Teddybären mit einem Küchenmesser den Unterbauch aufgeschlitzt und seinen Finger demonstrativ in die zum Vorschein kommende Holzwolle gebohrt, wohl um uns mit dieser Penetration zu beweisen, dass für ihn die Kindheit nunmehr erledigt sei und wir zwar noch weiter an den Weihnachtsmann glauben könnten, aber bitte nicht mit ihm. Es ginge jetzt um andere Dinge.
Mit diesem Akt der Aufklärung über die innere Natur der Dinge kam etwas ins Rollen, das, hätte es sich ungebremst fortgesetzt, vermutlich in einer Katastrophe geendet wäre. Betrachtet man nämlich die Wirklichkeit unter dem Verdacht der Geheimnislosigkeit, dann vermutet man Holzwolle auch dort, wo gar keine ist. Jedenfalls stellte ich mir lange Zeit vor, dass lebendige, von eleganten Damen spazieren geführte Pudel mit nichts anderem als Holzwolle angefüllt sein konnten.
Denn was da an der Leine hing und von einer seltsamen Lockenpracht überwuchert war, sah einem Stofftier ähnlicher als einem Wesen aus Fleisch und Blut. Außen Wolle, innen Wolle, so machte es Sinn. Während sich bei Donald Duck und allen anderen Comicfiguren die Frage nach einem Innen gar nicht gestellt hatte, da ja in dieser zweidimensionalen Welt alles von innen Kommende restlos in Sprechblasen veräußert ist, ging von einem derart zwischen tot und lebendig eingefangenen Wesen etwas zutiefst Verstörendes aus. Des Pudels Kern ist vielleicht, dass er gar keinen hat.
«Lange Zeit stellte ich mir vor, dass lebendige, von eleganten Damen spazieren geführte Pudel mit nichts anderem als Holzwolle angefüllt sein konnten.» –Harry Walter
Vielleicht bin ich aber auch nur deshalb so empfänglich für das Genre Frau mit Pudel, weil ich als Kind, Anfang der sechziger Jahre, Zeuge eines dramatischen Ereignisses wurde, bei dem ein wirklicher Pudel und eine wirkliche Frau aus heiterem Himmel für einen schrecklichen Moment im Luftraum für immer voneinander getrennt wurden.
Ich stand auf dem Wohnzimmerbalkon im ersten Stock unseres 13 Stockwerke zählenden Hochhauses, als ich plötzlich, aus den Augenwinkeln heraus, etwas kleines Weißes und kurz danach etwas viel größeres Schwarzes durch die Luft fliegen sah, gefolgt von einem wuchtigen und dumpfen Schlag. Während das weiße, eher kompakte Gebilde einen kleinen, fast eleganten Bogen beschrieb, stürzte das viel größere schwarze mit wehenden Schleiern senkrecht nach unten.
Ein erster Erklärungsversuch meiner herbeigerufenen Mutter war, dass die Bewohner der oberen Stockwerke neuerdings womöglich ihre Christbäume auf diesem direkten Weg entsorgen würden, nachdem der in der Mitte der Etagen befindliche Müllschlucker im vorigen Jahr durch eben solche Weihnachtsüberreste total verstopft und daraufhin außer Betrieb genommen worden war.
Doch die Wahrheit war eine andere: Eine schwarzgekleidete Frau hatte sich aus dem obersten Treppenhausfenster gestürzt und sich vorher noch ihres weißen Pudels entledigt. Während der Körper der Frau unüberhörbar auf den Steinplatten des Vorplatzes aufschlug, was noch jahrelang an einem mitten durch eine der Platten führenden Sprung zu erkennen war, kam der Pudel praktisch lautlos zu Tode und lag wie ein vergessenes Stofftier einige Meter entfernt von der Frau auf einer zu unserem Spielplatz führenden Rasenfläche.
Wie sich nach den ersten polizeilichen Ermittlungen herausstellte, war die Frau den Anwohnern völlig unbekannt und hatte sich dieses Hochhaus offenbar aus rein praktischen Erwägungen ausgesucht. Die Tatsache, dass die Frau von oben bis unten vollkommen schwarz, dazuhin äußerst elegant gekleidet war und überdies noch platinblonde, durch den Aufprall allerdings wild durcheinandergeratene Haare trug, hat nicht wenig dazu beigetragen, die Spekulationen oder die Fantasien über das Motiv dieses Freitods in beinahe filmische Höhen zu treiben, als hätte sich etwas, das man sonst nur von Hollywood kennt, direkt vor unserer Haustüre abgespielt.
Als ich viele Jahre später Hitchcocks «Vertigo – Aus dem Reich der Toten» von 1958 zu sehen bekam, wurde mir klar, dass der melodramatische Charakter dieses Stoffs noch um ein Vielfaches hätte gesteigert werden können, wenn sich der freie Fall in die Tiefe noch mit dem Tod eines Pudels verbunden hätte. Auch wenn einige Nachbarn meinten, dass dies alles nicht gerade vor der eigenen Haustüre und vor den Augen der Kinder hätte geschehen müssen, so war man sich doch einig, dass diese massive Störung des häuslichen Friedens gegen die darin zum Ausdruck kommende Verzweiflung nicht aufgerechnet werden sollte.
Für eine Generation, die im nicht mal zwanzig Jahre zurückliegenden Krieg noch mit ganz anderen Bildern konfrontiert war, mochte dieser tragische Einzelfall vermutlich sogar etwas Tröstendes gehabt haben. Den Reaktionen der Erwachsenen konnte ich jedenfalls eine gewisse Hochachtung für das Schicksalhafte oder Tragische dieses Ereignisses entnehmen, spürbar vor allem an der Zurückhaltung, mit der unsere bohrenden Kinderfragen nach dem Wie und Warum dieses erweiterten Suizids bedacht wurden, wobei das Schicksal des Pudels uns beinahe noch mehr berührte als das der wohl ihre Gründe habenden Frau.
Aus all diesen Erinnerungsfetzen hat sich im Lauf der Zeit ein wie ein Ufo in der Luft stehendes Gebilde herauskristallisiert, das zwar immer wieder die Gestalt eines Pudels annimmt, ansonsten aber von etwas Fotografierbarem so weit entfernt ist wie alle Geistererscheinungen.
Wir danken dem Publizisten, Kunsthistoriker und Herausgeber der Zeitschrift Merkur Christian Demand sowie der Familie des Künstlers und dem Schlaufen Verlag, dass wir diesen Text von Harry Walter aus dem Band «Bilder knistern», 2023 als Bildfäden No. 2 im Schlaufen Verlag erschienen, bei ReVue veröffentlichen dürfen.
Harry Walter (geboren 1953, verstorben 2024) war ein Künstler, Autor und Hochschullehrer aus Stuttgart. Er studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart und Tübingen. Zeit seines Lebens setzte er sich mit dem Medium Fotografie auseinander und galt als einer der Väter der «Künstlerischen Forschung». Aus seiner Sammlung fotografischer Fundstücke konnte er dabei immer wieder schöpfen. Als er wusste, dass seine Zeit gekommen war, sagte er zu Freunden: «Macht einfach weiter!»
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