Das Bild in seiner Zeit

Gruß aus Diefenbach!

Gasthof Bergner –
Gasthaus zum Ochsen

Diese Karte aus den 1950er-Jahren ist keine Ansichtskarte im eigentlichen Sinne. Sie zeigt entgegen ihres Titels «Gruß aus Diefenbach am Fusse des Stromberges» nicht nur Motive der kleinen schwäbischen Weinbau-Gemeinde in Nordwürttemberg.

Gruss_aus_Diefenbach_1950er

Text — Karl-Heinz Steinle

Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind zwei Gebäude, zwei Orte der Begegnung: der Gasthof Bergner und das Gasthaus zum Ochsen. Die Beschriftungen auf der Karte liefern geografische Angaben und Hinweise auf Eigentumsverhältnisse. Mit «vormals» wird zudem ein historischer Bezug hergestellt, betont noch dadurch, dass der Gasthof Bergner als Zeichnung abgebildet ist.

Weitere Fotos zeigen Dorfansichten, die – erst bei näherer Betrachtung – als zwei unterschiedliche Dörfer erkennbar sind. Diese Fotos sind nicht beschriftet, nur Ortskundige können wissen, dass es sich dabei um die beiden Dörfer Wickwitz und Diefenbach handelt. Erst die Rückseite der Karte mit den Hinweisen «Gut bürgerliche Küche. Gepflegte Weine. Fremdenzimmer» weist auf die eigentliche Absicht der Karte hin: Beworben wird mit ihr das Gasthaus zum Ochsen in Diefenbach.

Es sind viele Informationen auf der Karte, ein nicht ganz eindeutiges, recht komplexes Geflecht an Signalen, Hinweisen und Botschaften. Nach Marketingaspekten mag die grafische Umsetzung auf der Karte misslungen sein – unter historischen Aspekten liefert sie einen Fundus an komprimierten zeithistorischen Bezügen.

Zwei Welten – zwei Küchen

In Auftrag gegeben wurde die Karte von Heinz Bergner. Er wurde 1923 in Wickwitz im Sudetenland (heute Vojkovice) geboren, wo seine Eltern den Gasthof Bergner betrieben. 1946 wurde er von dort mit Eltern und Geschwistern vertrieben. Er gelangte ins schwäbische Diefenbach und konnte dort, obwohl er «Flüchtling» war, bald das Gasthaus Ochsen erwerben. Nach seinem Tod übernahmen seine Schwester Hildegard und ihr Mann Alfred Steinle ab 1960 das Gasthaus. Sie führten es in der Tradition des Gasthofs Bergner als Familienbetrieb mit schwäbisch-böhmischer Küche weiter.

Der Ochsen wurde wie früher schon der Gasthof Bergner eine Begegnungsstätte für ganz unterschiedliche Menschen, hierher kamen Einheimische, Geschäftsleute und Touristen, er wurde aber auch zentraler Treffpunkt der durch die Vertreibung weit verstreuten Familie Bergner und anderer Vertriebener, ein Ort des nicht immer konfliktfreien Austausches und der Integration.

Die Karte zeigt Bilder der alten und der neuen Heimat von Heinz Bergner. Die Darstellung der beiden Gebäude vermittelt, dass der «vormalige» Besitz durchaus mondän war. Gleichzeitig scheint dieser seltsam entrückt, der neue Besitz dagegen in seiner Abgeschlossenheit noch nicht wirklich angeeignet. Einen unentschiedenen, fast melancholischen Eindruck vermitteln die beiden Dorfansichten: nähert man sich den Dörfern oder blickt man auf sie zurück?

Eine Manifestation von Selbstbewusstsein und Trotz und Schmerz

So ist die Ansichtskarte eine Manifestation von Selbstbewusstsein und eingeforderter Reputation, von Trotz und Selbstbehauptung, aber auch von Verlust und Schmerz – und gibt damit einen Eindruck der Befindlichkeiten der Heimatvertrieben in den 1950er-Jahren.

Die Karte ist mit Informationen aufgeladen, ein Speicherchip aus dem 20. Jahrhundert. Dabei stellt sich die Frage, ob die Andeutungen mit all ihren Subtexten zur Entstehungszeit der Karte verstanden wurden und nicht zuletzt: An wen wendet sich die Grußkarte? An die Ortsansässigen? An die Vertriebenen? Oder ist sie ein Gruß in die alte Heimat oder ein Gruß von ihr? 

Karl-Heinz Steinle
Karl-Heinz Steinle ist im Gasthaus Ochsen aufgewachsen und studierte später Geschichte und Slawistik in Heidelberg und Berlin. Er ist Historiker und Berater für Museen, Sammlungen, Stiftungen und Filmproduktionen. Zur Zeit arbeitet u.a. im Forschungsvorhaben der Universität Stuttgart «Lebenswelten, Repression und Verfolgung von LSBTTIQ* in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik». Steinle ist Mitglied von DEJAVU e.V. und im Redaktionsteam von ReVue.

Weiterlesen

Mehr ReVue
passieren lassen?

Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.

Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!

revue-wortmarke-w3

Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.

Herausgeberin

DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. 
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin

ReVue ISSN2750–7238

ReVue wird unterstützt von

Bild-Kunst-Kulturwerk
GLS_ZSMuG_white
img-bluepebble