Kolumne

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Cadavre Exquis —
eine Geschichte ohne Plan 

begonnen von Miriam Zlobinski,
weitergeführt von Zora del Buono, Heike Ollertz, Christian Pfaff,
Lia Sophie Laukant, Hannah Hofmann und Johanna Berghorn 

Ein Foto, gefunden auf einem Flohmarkt in Berlin, beginnt diese Geschichte.

Das kleine Bildchen scheint keinen Wert zu haben, bezahlen brauche ich nicht und der Verkäufer oder besser Verschenker wendet sich schnell anderen Kunden zu.

Die Rückseite verrät nichts, keine gekritzelte Jahreszahl, kein Name oder Adressenstempel. Absurd vergessen wirkt das kleine, zerknickte Bild, nicht größer als eine Visitenkarte. In der Theorie wird betont, Fotografie öffnet die Welt mit fremden Blicken genauso wie sich Ansichten verfestigen lassen. «Mein» Foto hatte seine Betrachter verloren. Nun liegt es vor mir auf dem Tisch und ich denke – wenn die Erzählung im Bild alles ist, so kann sie zu allem werden, auch zu einem Startpunkt. 

Das Foto dient als Auftakt für einen Dialog zwischen Foto- und Text-Autoren und Autorinnen. Auf eine Fotografie antwortet ein Text und vice versa. Der Text ist also wiederum der Ausgangspunkt für das nächste Bild. Die gegenseitigen Fragen lauten - Was erzählt mir ein Foto? Was sehe ich in einem Text?

Der Surrealist André Breton beschrieb es als Spiel, in dem es darum geht, einen Satz oder Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen. Das surrealistische «Cadavre Exquis» kennt kaum Regeln, der Zufall leitet die Entstehung von Texten und Bildern an, ergibt einen eigenen Raum. Es geht um gemachte und erzeugte Bilder, mal sich beschreibend orientierend oder in die Szene förmlich hineinspringend. Fiktional, eigen, vollkommen frei – nur nicht länger als eine im Affekt geschriebene Seite oder eben eine Fotografie.

Texte — Autoren und Autorinnen

Foto — Fotografen und Fotografinnen

A — Der Flohmarktfund von Miriam Zlobinski

«Die Rückseite verrät nichts, keine gekritzelte Jahreszahl, kein Name. Absurd vergessen wirkt das kleine, zerknickte Bild, nicht größer als eine Visitenkarte.»

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B — Die Schriftstellerin Zora del Buono antwortet

Es ist der Blick. Und die Frage: Was hält der Mann in der Hand? Es ist der Schliff der Spiegel (urvertraut, so einer steht in meinem Schlafzimmer; er gehörte Anni, meiner Lieblingstante, Fräulein Zehnder, wie sie genannt werden wollte, denn das war ihr Stolz: nie abhängig gewesen zu sein von einem Mann), es sind die Rätsel der Dekoration: Welche Pillen sind in der Dose drin, war Valium in den Fünfzigerjahren schon en vogue (1963 hatte man es meiner Mutter gegeben, gegen den seelischen Schmerz; sie hat es bald abgesetzt, kluge Frau)? Bedeutet die Porzellanfigur mehr als das, was sie darstellt: Reiter und Pferd?

Nicht zuletzt die Frage: Wer sind die Menschen auf der Fotografie? Ich stelle mir vor: Es sind die Eltern des Fremden, er selbst das Kind zwischen ihnen, wahrscheinlich vor einem Geschäft, ihrem Geschäft, ich imaginiere mir einen Kurzwarenladen in der Provinz. Er hingegen hat es in die Großstadt geschafft, führt vielleicht ein künstlerisches Leben – stehen da Bilderrahmen an der Wand? Wer auch immer ihn fotografiert hat, hatte gestalterische Ambitionen: all diese Spiegelungen. 

Dieses Bild rührt mich; es erinnert mich an meinen Vater, es gibt ähnliche Bilder von ihm. Mein Vater, den ich nicht kannte, der starb, als ich kein Jahr alt war. Ich sehe in dem Fremden einen Mann, der es womöglich geschafft hat, alt zu werden. Ich kann mir sein Leben fantasieren, während das Leben meines Vaters jäh endete, aus dem Haus, ein Unfall, tot. Nur 33 gelebte Jahre.

Der Mann hier, mit seinem Hang zum Kitsch (die Reiterfigur), seiner Freude am Lebendigen (die Pflanze), mit einem Geheimnis (die Pillen) blickt nach draußen, hat eine Zukunft vor sich. Oder auch nicht, wer weiß das schon.  

(Was eigentlich ist aus dem jungen Rowdy geworden, der meinen Vater totgefahren hat?)

C — Die Fotografin Heike Ollertz antwortet

 

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Flüssige Emulsion auf 13x18 cm Glasplatte, im Durchlicht über einen Spiegel fotografiert

D — Christian Pfaff, Vorstand Wort bei Oberfett, antwortet

Was ist von Tagen zu halten, die einfach schon beim Aufstehen zerknautscht daherkommen? 

Prinzipiell sollte man diese durch das beherzte Zuziehen der Gardinen gleich in eine 24-stündige Nacht verwandeln und einfach im Bett bleiben. Hier ist es bei Kerzenlicht angenehm schummerig und man darf – sofern Hilfe vor Ort ist – nach Tee und Gebäck verlangen; sollte aber ansonsten von jeglicher Aktivität außer dem Nach-Innen-Horchen Abstand nehmen.

Ebenfalls erlaubt ist, sich eine von diesen Kisten aufs Bett zu ziehen, von denen man sich vorgenommen hat, sie bei Gelegenheit durchzuschauen und aufzuräumen. Wie die Begrifflichkeit «bei Gelegenheit» schon impliziert, steckt kein wirklicher Zwang dahinter. Auch das mit dem Aufräumen kann man getrost bleiben lassen. Das Durchschauen hingegen kann man lustvoll praktizieren, sich in Erinnerungen wälzen, beschließen, auch noch weitere Kisten zu öffnen, alles rund ums Bett anzurichten, um dann ggf. noch nach weiteren Heißgetränken und Backwerk zu fragen. In den Kistchen findet sich alles von selbst: Klebstoff für Erinnerungen, seltsam belichtete Glasplatten, Einzelstücke von Dingen, die sonst paarweise daherkamen und natürlich dieser Duft, der allem anhaftet, um das man sich seit Jahren nicht mehr so recht gekümmert hat.

Auch Fragen kommen auf. Diesen kann man sich mit der Entspannung widmen, die man nun hat, weil der zerknautschte Tag zahlreiche Stunden des gepflegten Vor-sich-Hindämmerns und des Rekapitulierens bereitstellt. Frage 1: «Sollte ich für diese Stunden zwei Betten installieren?» Frage 2: «Könnte man diese Betten auch übereinander stellen?» Frage 3: «Sind noch Kekse und Tee da?»

Während diese Gedanken wie kleine Wölkchen durch den Raum und über das Bett kreisen, passiert etwas Seltsames. Der Geist befreit sich von dem Ballast der Alltäglichkeit. Da ablenkendes Zeug wie Endgeräte oder tagesaktuelles Schriftwerk nicht in die Dämmrigkeit des zugezogenen Raumes Eingang finden, verklingt auch das Brummen, Ziepen, Rattern und Rascheln der Normalität. Und just in diesem Zustand beginnt das Entdecken der Möglichkeiten. Sie stecken überall. In der Kiste, neben dem Bett, in der Tasse Tee, aber vor allen Dingen in dem von Notwendigkeiten befreiten Schädel. «Ich sollte mal wieder den Apparat in die Hand nehmen», «Dieses rote Bändchen – hatte ich davon nicht zwei? Sollte ich eins neu flechten?», «Ist dieser alte, wenngleich originalverpackte Film eigentlich noch gut? Könnte ich den nicht in die gerade eben erst wiederentdeckte alte Kamera stopfen und einfach drauflosschießen?» Erst erscheinen diese neuen Optionen nur zögerlich. Dann werden sie mehr. Aus dem «man könnte ja mal» entstehen klarere Handlungsaufforderungen: «Das müsste ich jetzt wirklich anschieben» bis hin zu: «Genial, warum bin ich da nicht schon eher drauf gekommen?»

Der zerknautschte Tag entknittert sich unbemerkt. Schon wird die Nachttischlampe angeknipst, Stift und Zettel bahnen sich den Weg zur Pläneschmiede. Unruhe verbreitet sich. Man kann das doch nicht warten lassen. Der Tee ist noch nicht gänzlich abgekühlt, da wird schon am Vorhang gerissen. Tageslicht flutet herein. «Herrje, überall Krümel. Noch so viel zu tun. Großartig. Gleich loslegen.»


Und die Kiste? Die schaut man bei Gelegenheit etwas weiter durch und räumt sie dann auf. 
Jetzt aber hat der zerknautschte Tag sein Ende gefunden.     

E — Die Fotografin Lia Sophie Laukant antwortet

 

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Ich selber kenne diese Tage auch nur zu gut, die Christian Pfaff beschreibt. Und das Licht, welches durchs Fenster fällt, gibt mir immer die Energie für den Tag. Analog fotografiert.

F — Hannah Hofmann, Autorin, antwortet mit „Bzzz“

Mit meinen Händen schenke ich mir Verlangen ein. 
Mit meinen Fingern stolpere ich stotternd in mich hinein, heraus, hi-i-inein. Alles ist klebrig und überzogen von Zucker und Hitze.

Vielleicht bin ich einfach nur dankbar, etwas Sinnvolles mit meinen Händen zu tun. 

In letzter Zeit ist das Leben ganz schön viel Ein-Fuß-vor-den-anderen gewesen. Ganz schön viel Einatmen in die selben alten Blutergüsse anstatt sich zu fragen, warum diese nicht verblassen. Sich fragen, warum alles an meinem Körper so versteift darauf ist, zu heilen außer dieses Violett. 

Fange an zu glauben, dass Bestandaufnahmen nicht nur Prozesse für den Einzelhandel sind. Ich stelle ein Inventar auf von Gänsehautmomenten, Orgasmen und zwischendurch ein bisschen Leere.

Der Singsang meines Vibrators füllt mich mit Ruhe. Der stetige Herzschlag zwischen meinen Beinen beruhigt mich auf eine Art, mit der sonst nur das Geräusch von fallendem Regen mithalten kann .(Habe eine App dafür, zum Einschlafen.)

Die meiste Zeit fühlt sich dieses Heilen und Wachsen und Werden so langsam an. Wie wenn Honig vom Boden eines umgekehrten Glases tropft.

Aber seit letztem Monat schlafe ich wieder mit meinen Fenstern weit geöffnet. Ich gieße einen extra Schuss Sahne in meinen Kaffee auf dem Nachttisch. Ich lächle, wenn ich Leute an roten Ampeln in ihren Autos tanzen sehe. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass es lange Reihen von Menschen gibt, die sich schon vor mir auch so gefühlt haben. Beisammen und irgendwie alleine.

Und diese Menschen leckten denselben Honig von demselben Löffel, haben gewartet und ihn genossen, bis sie nicht mehr festgeklebt sind.  

G — Die Berliner Fotografin Johanna Berghorn antwortet

 

cadavreexquis

Ohne Titel

Autoren und Autorinnen
Die Autoren wählen ihre Antwortenden aus. Eine stille Post aus Dialogen zwischen Text und Bild führt zu dieser unplanbaren Geschichte.  Auf eine Fotografie reagiert ein Text und vice versa. Die gegenseitigen Fragen lauten - Was erzählt mir ein Foto? Was sehe ich in einem Text?

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10965 Berlin

ReVue ISSN2750–7238

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