Feldarbeit

Synthetische
Konfabulationen

«Es besteht seit Jahrhunderten kein Zweifel daran, dass es nicht ausreicht, die Welt in Worten zu beschreiben. Man muss die Welt berechnen. Dementsprechend sind Zahlen in der Wissenschaft als Gedankenbilder immer häufiger geworden. Beispielsweise ist die Zwei ein Ideogramm für das Paarkonzept, von Verkupplung. Mittlerweile wird dieser ideografische Code selbst, eine Zahlenkombination, die in letzter Zeit auf besonders genaue Weise von Computern entwickelt worden ist, in synthetische Bilder transkodiert. Darum bin ich fest davon überzeugt, dass man, wenn man eine eindeutige und ausgeprägte Konzeptkommunikation erreichen möchte, synthetische Bilder, und nicht mehr Worte, verwenden muss.» [1]

Vilém Flusser, 1988

Text und Bilder — Alexey Yurenev  Übersetzung — Patrick Ploschnitzki

I.

Im Sommer 2019 besuchte ich in Moskau einen Vortrag über die Zukunft der Bildschöpfung, gehalten vom amerikanischen Autor, Kurator und Dean Emeritus des International Center of Photography Fred Ritchin. Er sprach über die Rollen der Authentizität, die durch die Verbreitung künstlicher Intelligenz und synthetischer Medien bedroht würden. Ritchin zeigte seinem Publikum die Webseite thispersondoesnotexist.com, eine endlose Sammlung von Portraits, die das neurale Netzwerk styleGAN generiert hatte.
 
GAN, das Generative Adversarial Network (Generatives Feindliches Netzwerk), das oft zu üblen Zwecken verwendet wird und besonders durch Deepfakes von sich reden macht, ist ein unüberwachter Satz neuraler Netzwerke, der aus einem Forger («Fälscher») und einem Critic («Kritiker») besteht. Beide sind darauf ausgelegt, Bilddatensätze, mit denen sie gefüttert werden, zu analysieren.

Die Funktion des Forgers ist es, neue Bilder zu erstellen, die den Critic überlisten, welcher die Ergebnisse mit den Originalen abgleicht und verifiziert. Sobald der Critic fälschlicherweise vom Ergebnis überzeugt wurde, wird das neue Bild produziert. Im Lauf mehrerer Lernzyklen und -epochen werden die Bilder zunehmend, im Vergleich mit dem ursprünglichen Datensatz, der aus Bildern besteht, die jemand oder etwas (ein nicht-menschlicher Akteur) erstellt, beschafft, optimiert und sortiert hat, und mit dem das Netzwerk gefüttert wurde, ikonisch referentiell.

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Der Großvater von Alexey Yurenev (links) mit seinem Bruder Naum, gefallen vor Wolgograd. Fast 80 Jahre später kehrt der Fotograf auf das Schlachtfeld zurück, um die «Gespenster der Vergangenheit» zu finden

II.
 
Mein Großvater Grigorij Lipkin durchlebte vier Jahre Militärdienst im Zweiten Weltkrieg, den man getrost als den schlimmsten Konflikt der Menschheitsgeschichte bezeichnen kann, und er sprach nicht einmal über seine persönlichen Erfahrungen darin. Seit seinem Tod gibt es seine Erinnerungen nicht mehr. Die Webseite thispersondoesnotexist.com provozierte mich, mir vorzustellen, was synthetische Erinnerungen von Grigorijs Kriegsheldentaten dazu beitragen könnten, die Lücke im kollektiven und persönlichen Gedächtnis zu schließen, die das Schweigen meines Großvaters und seiner Zeitgenossen hinterlassen hat.
 
Mein erster Schritt, damit der lernende Datensatz in der Lage sein könnte, der Visualisierung dieser synthetischen Erinnerungen entgegenzuarbeiten, war, 35.000 Fotografien von waralbum.ru herunterzuladen. Dieses Archiv wurde von Hobby-Kriegsexperten und Amateurhistorikerinnen, die die Bilder entschlüsseln und das Kriegsgerät, das man auf den Fotografien sehen kann, identifiziert und beschriftet. Die meisten Fotografien im Archiv bestehen aus reaktiven ikonografischen Kriegsdarstellungen.
 
Ich teilte die Fotografien in Kategorien ein, damit sie für GAN leicht verdaubar waren: in Schlachtfelder, Folgen und Kriegsakteure, und nach Brennweiten: Nahaufnahme, mittlere Brennweite und Weitwinkel. Die größtenteils schwarz-weißen, grobkörnigen und hochkontrastigen Darstellungen von Abscheulichkeiten, Zerstörungen, Kriegsindustrie und Tod fühlte sich an, als wäre ich Lilu in der Szene aus The Fifth Element, in der sie die gesamte Geschichte der Weltzivilisation in sich aufsaugt.[2]

Nachdem ich Tausende Bilder aus dem Deutsch-Sowjetischen Krieg katalogisiert hatte, hatte ich manchmal das Gefühl, gegenüber der Gewalt abgestumpft geworden zu sein. Aber dann reichte ein brutales Foto, damit ich für den Tag aufhören musste. Dabei fragte ich mich, ob ich die Maschine speise, oder sie mich. Weil ich diese Fotografien durchsehen und schlucken musste, war es unumgänglich, dass ich sie a priori als «Wahrheit» und als historische Dokumente betrachtete.

 

III.
 
Es ist allgemein bekannt, dass Jewgeni Chaldeis Bild vom Flaggehissen auf dem Reichstag in Wirklichkeit gestellt und retuschiert war.[3] Chaldei kehrte nach dem Krieg nach Moskau zurück, um die Fahne abzuholen, die dann fotografiert werden sollte. Als er die echte Flagge nicht ausfindig machen konnte, besorgte er rote Tischdecken bei der russischen Nachrichtenagentur TASS und bat seinen Onkel, eine sowjetische Fahne zu nähen. Er kehrte dann nach Berlin zurück, um dort das Bild zu inszenieren, das später einen solchen Wiedererkennungswert haben sollte. Es wurde im Hintergrund Rauch hinzugefügt. Eine von zwei Armbanduhren eines Soldaten wurde von Stalins Zensurbehörde entfernt.[4]
 
In Russland ist der Krieg eine Religion. Ich wurde 1986 in Moskau geboren, und es fühlte sich an, als hätte der Krieg ein paar Wochen vor meiner Geburt aufgehört. Was die amerikanische Komparatistikprofessorin Marianne Hirsch als post-memory[5] bezeichnet, dominiert den Raum, in dem eigene, neue Lebensgeschichten geschehen könnten, aufgrund der erdrückenden Schwere des Generationentraumas aller Familien, das der Krieg verursacht hat, an dem Ort, der einmal die UdSSR war.

Dieses Trauma wurde parasitär durch Filme, Paraden, Denkmale, Feuerwerk und Nelken in meine Erinnerung implantiert. Ich erinnere mich, wie wir als Kinder oft «Russen und Deutsche» gespielt haben; ein Spiel, das immer damit endete, dass die «Russen» mit Stöcken auf die «Deutschen» zeigten und dabei «Hände hoch, Hitler kaputt!» riefen.
 
Da ich umgeben von denselben Aufnahmen aufgewachsen war, die ich nun katalogisierte, hinterfragte ich nie ihre Echtheit. Heute, wo die meisten Veteranen nicht mehr leben, findet ein Wandel von kommunikativer zu kultureller Erinnerung statt, die nicht mehr von den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weitergetragen wird, sondern von mnemonischen Institutionen wie Archiven und Museen.
 
Die Heldentaten militärischer Eroberungen werden oft als Stützen benutzt, um eine nationale Identität zu entwerfen.[6] Diese Erinnerungen werden manipuliert, um Patriotismus und Nationalstolz zu kultivieren. Im Kontext des aktuellen Russland-Ukraine-Kriegs hat das russische Verteidigungsmilitär die Website vozmezdie.ru veröffentlicht (vozmezdie bedeutet ‚Vergeltung’). Es handelt sich dabei um einen Sammelort für Dokumentationen ukrainischer Nazikollaborateure im Zweiten Weltkrieg, der die entsetzliche Invasion rechtfertigen soll und das Regierungsnarrativ von der Entnazifizierung der Ukraine befeuert.

 

IV.
 
Medienphilosoph Vilém Flusser argumentiert in seinem Essay «Towards a Philosophy of Photography» von 1983, dass Fotografien nur Zustände von Dingen festhalten können, die Teil permanenter Veränderung sind.[7] Auf einem Foto wird ein Geschehen zu einem Ereignis abstrahiert, zu einer Allesaufeinmalkeit… Ein Foto durchdringt das Raum-Zeit-Kontinuum. Flusser beschreibt ein Gerät, das technische Bilder produziert, als «Kästen, die die Geschichte verschlingen und Nachgeschichte ausspucken».[8]
 
Ohne Kontext könnten die Fotografien auf waralbum.ru zu jedem beliebigen Zeitpunkt gemacht, inszeniert, erlebt, manipuliert usw. worden sein. 35.000 Dokumente sind lediglich 35.000 Perspektiven. GAN differenziert im Gegensatz zu einem Menschen, der den Bildinhalt entschlüsselt, nicht zwischen Wahrheit und Erfindung. Es ist ein konvolutionelles Modell, das mithilfe der Muster, die es in seinem Ausgangmaterial erkennt, eine Pixelansammlung propagiert und voraussagt.

Ob jemand oder etwas auf dem Bild irgendwann einmal Teil eines fotografischen Ereignisses war, sei es als Nazi, Sowjet, totes Kind oder als ein Panzer, wird vollkommen irrelevant. Es handelt sich um eine Rorschach-Buchstabensuppe von Blicken, die vier Interpretationsorte eines Bildes enthält: Kamera, Fotograf, Subjekt und Betrachtende.[9] Wenn man einen Schritt zurücktritt und diesen generativen Prozess näher betrachtet, kann man die Anwesenheit eines zusätzlichen Orts beobachten: den der Fantasie.

Und diese Fantasie hängt einzig und allein von der synthetischen Erfahrung der Betrachtenden ab; von der Begegnung mit dem Prozessresultat: die Erfahrung des eigenen Verhältnisses zur Welt, der Entschlüsselung der Bedeutung des geschaffenen Bilds.

Der erste Datensatz, mit dem ich die Maschine fütterte, bestand aus «Schlachtfeld»-Fotografien. Ich befahl dem Ungetüm, einhundert Bilder zu generieren. Ohne dass sie in ihrer Indexikalität aussagekräftig wären, stellen diese synthetischen Bilder für mich eine dramatische Schlachtszene dar, die an die Fotografien, mit denen die Netzwerke gefüttert worden sind, erinnern.

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Schlachtfeld: styleGan2-Bild, gespeist mit einem Datensatz an Archiv-Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg

Wenn ich mir «Schlachtfeld» (Bild oben) ansehe, sehe ich eine schwarze Rauchsäule, die sich aus einem brennenden Gegenstand in der Landschaft erhebt, ein Gefühl von Bewegung, eine Verfolgung. Es sieht aus wie eine Fotografie, die mit einem Auslöser aus dem frühen 20. Jahrhundert belichtet worden sein könnte, bei dem die Teile ober- und unterhalb der Brennebene verzögert festgehalten wurden, sodass der Horizont zu einem sich windenden Strudel verzerrt wird.
 
So wie alle anderen synthetischen Bilder erscheint «Schlachtfeld» als eine unbewusste Landschaft. Sie sind Kriegsnebel, Gespenster von Schlachten, die in der Gestalt eines einfarbigen, expressionistischen Gemäldes wieder auftauchen. Diese synthetischen Eindrücke überlassen es der Fantasie, unbewusst die Lücken zu füllen. Sie versuchen nicht, die Betrachtenden mit einer Art indexikalischer und ikonischer Charakteristik von einer Tatsache zu überzeugen, so wie es eine Fotografie versuchen würde. Ihr Abbild erscheint verschleiert, es ist nicht existent.[9] Sie sind ein Schatten eines Kriegsarchivs. Im Gegensatz zu einer Silhouette deuten sie kein Objekt an, das antumbral von hinten angeleuchtet wird. Sie sind tatsächlich eine verzerrte Projektion.
 
Und trotzdem erscheinen synthetische Bilder in diesem Zustand aufrichtiger als die Fotografien aus dem Archiv. Diese Bilder emanzipieren sich von ihrer Verantwortung und Verlässlichkeit gegenüber der realen Welt. Ihre Gestalt produziert Informationen, mit derselben Aussagekraft wie eine konventionelle Fotografie. Ihre imaginative Stärke liegt nicht in einer irreführenden Faktizität, sondern in einer tief verankerten Emotionalität. Ich frage mich, ob diese emotionale Reaktion zutiefst ursprünglich, reflexiv und damit auch vertrauenswürdiger ist.

 

V.
 
Das Wort ‚Archiv’ leitet sich vom griechischen Wort Arkh ab, das ‚Anbeginn‘ oder Vorschrift‘ bedeutet, aber auch ‚Behausung‘ oder ‚verweilen‘. Wie jede andere Behausung auch hat es ein Drinnen und ein Draußen, und es schreibt auch vor und regelt, was eingeschlossen und ausgeschlossen ist. Der französische Philosoph Jacques Derrida behandelt das Archiv mit den Mitteln der Psychoanalyse und vergleicht es mit dem menschlichen Gehirn, das festen Klassifikationsstrukturen folgt.[11] Es enthüllt so viel, wie es verhüllt.
 
Beim Durchblättern des Bildarchivs, das ich zusammengetragen habe, habe ich nicht einmal ein beschädigtes Bild entdeckt; kein Fehler, kein Outtake, kein unscharfes, unabsichtliches Bild findet sich zwischen den einzelnen Aufnahmen, das vielleicht versehentlich gemacht worden ist, weil ein Auslöser gegen eine Hüfte stieß. So ein Bild wäre wohl vom jeweiligen Akteur als unarchivierbar erachtet worden, in einem Prozess, für den der niederländische Autor Erik Ketelaar den Begriff archivalization prägte.[12]

Um meiner eigene Voreingenommenheit in der Wahrnehmung von Kriegsthemen in synthetischen Bildern zu begegnen, lud ich sie in die Google-API-Bilderkennung hoch. Computerblicke erkennen ebenfalls Krieg, Gewalt, SoldatInnen* und Geschichte. Sind diese Bilder synthetische Konfabulationen aus JPEG-Artefakten, die versuchen, die schwarz-weiße grobe Körnung zu interpretieren, aus denen das Original irgendwann einmal geschaffen wurde? Und in welchem Ausmaß schafft die Dominanz solcher Bilder eine genetzwerkte Vorstellung für die Bilderkennungsmaschine?
 
Aufgrund des weltbildenden Potenzials der Abstraktion nehme ich eine subjektive Haltung ein und gestehe den synthetischen Bildern zu, für was ich sie halte: abhängig vom Ausgangsdatensatz. Ich habe die «Szene» nach dem Input benannt: «Schlachtfeld». Ich gebe das neurale Netzwerk als Schöpfer an: styleGan2-Bild, gespeist mit einem Datensatz an Archiv-Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg.

 

VI.
 
Mit der Kollaboration mit styleGAN hatte ich mir ein unmögliches Ziel gesetzt; etwas zurückzufordern, das es nicht mehr gibt, eine Erinnerung, die mit dem Tod eines Menschen verlorengegangen war. Während der Recherche im Archiv, auf der Suche nach Material, mit dem ich die Maschine und mich selbst speisen konnte, machte ich eine paradoxe Erfahrung. Ich wusste, dass mein Großvater sich bei der Roten Armee vor dem eigentlichen Einzugsalter verpflichtet hatte, um seinen Bruder Naum zu suchen, der kurz nach der Naziinvasion verschollen war. Ich stieß auf das Archiv www.pamyat-naroda.ru (russisch für «Erinnerung an die Menschen»), das vor kurzem vom russischen Verteidigungsministerium freigegeben worden war.

Dort fand ich eine Flut an Informationen über die Aktivitäten meines Großvaters im Zweiten Weltkrieg. Ich fand auch heraus, was seinem Bruder passiert war. Naum wurde außerhalb von Wolgograd (dem früheren Stalingrad) beim Kampf um ein strategisch wichtiges Stück Bahnschiene getötet. Im Januar 2022 reiste ich zur Feldforschung nach Wolgograd, dem Todesort meines Großonkels.  

 

VII.
 
Eintrag aus meinem Forschungstagebuch vom 20. Januar 2022:
 
Um mich herum besteht die Landschaft meilenweit aus verlassener Prärie. Fruchtbar, aber unbewirtschaftet wirkt dieser Ort wie eingefroren, als würde er sich schämen für das, was dieser Boden achtzig Jahre vor einer Ankunft miterleben musste. Bedeckt von mehreren Metern Schnee verschmelzen der weiße Himmel und der Horizont, nur gelegentlich unterbrochen von totem Gras, einem Busch, oder einem einsamen Baum.

Der markdurchdringende Wind erinnert mich an die lyrischen Zeilen, mit denen das Mamajew-Kurgan-Denkmal an die gefallenen Soldaten in der Stadtmitte von Wolgograd beschriftet ist: «Der Eisenwind schmetterte in ihr Gesicht, sie schritten fort und fort…» Gemeint ist die Menge an Munition, die in dieser flunderflachen Gegend abgefeuert wurde. Vor Ort ist es entsetzlich, sich die Brutalität der Schlachten vorzustellen; wo jedwede Rückzugsmöglichkeit fehlt. Kreischend blies der Wind den Schnee seitwärts, gegen die unbedeckte Haut meines Gesichts mit einem metallischen Klang.

 

VIII.
 
Inspiriert von Roger Fenton und anderen Pionieren der Kriegsfotografie, die oft zu spät vor Ort waren und mit Inszenierungen und Nachstellungen Vorlieb nehmen mussten, [13] benutzte ich denselben Stilapparat: eine 8x10 Fachkamera mit Balgen, die mit demselben Prinzip funktioniert wie die allerersten Kameras der Welt. Mit dieser Kamera zu arbeiten ist ein systematischer und mühsamer Arbeitsprozess, der aus mehreren Schritten besteht und in fester Reihenfolge ausgeführt zu wissen sein will, um erfolgreich zu belichten. 
 
Dieser Erfahrung erinnerte mich an meinen Großvater, Grigorij Lipkin, dessen erster Dienstgrad nach seiner Verpflichtung zweite Artilleriekraft war. Das bedeutete, dass er die Waffen transportieren musste. Nachdem er viermal verwundet worden war, kehrte er in den Krieg zurück, wo er sich wieder dem Feldzug anschloss, der bis zu seinem Lebensende geheim bleiben sollte. Als wäre diese Sisyphusarbeit bedeutungslos, schleppte ich zwanzig Kilo Ausrüstung durch eine weiße Hölle, in der zwei Millionen Menschen ihr Leben gelassen haben und wo der Komposition nun jeglicher Sinn und Zweck abhandengekommen war. Egal, worauf ich mit dieser Fantasiewaffe auch zielte – alles um mich herum sah exakt gleich aus.

Ich verwendete orthografischen Film, ein Schwarzweiß-Medium, das ausschließlich ultraviolette Frequenzen wahrnimmt. Dieser technische Film wird normalerweise benutzt, um Duplikate von anderen Negativen und Dokumenten anzufertigen, aber auch, um in der Dunkelkammer Manipulationen und Retuschierungen zu vertuschen. Dieser Film sieht nicht, was das menschliche Auge als Rot wahrnimmt. Die Emulsion gibt es als Schwarz wieder.
 
Auf meiner Suche nach den geringsten Spuren meines Verwandten in der Unendlichkeit der milchweißen Landschaft agierte der Film als eine Geste, mit der man ein komplettes Lichtspektrum abzieht, um die Gespenster der Vergangenheit zu finden (oder zu rufen?), die einen Eindruck auf der Dicke der Silberhalogeniden der Emulsion hinterlassen könnten.
 
Der orthografische Film wurde hier zu einer Art Internegativ, ein Substrat zwischen der Bildersammlung, die ich online gefunden hatte, der synthetischen KI-Landschaft und der echten Erfahrungen auf den Äckern in der Prärie. 

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49°02’46.8”N 44°08’08.6”E: Aufgenommen mit einer 8x10 Fachkamera mit Balgen, auf orthografischem Film, der ausschließlich ultraviolette Frequenzen wahrnimmt. Dieser technische Film wird normalerweise benutzt, um Duplikate von anderen Negativen und Dokumenten anzufertigen, aber auch, um in der Dunkelkammer Manipulationen und Retuschierungen zu vertuschen. Dieser Film sieht nicht, was das menschliche Auge als Rot wahrnimmt. Die Emulsion gibt es als Schwarz wieder.

IX.
 
Während meiner Forschungsreise fragten mich meine Familie und Freunde via Textnachrichten, ob ich irgendetwas spüre. War irgendetwas präsent? Was für eine Erfahrung war das? So sehr ich auch den Geist spüren wollte – ich spürte nichts von den Spuren meines Onkels, abgesehen davon, in dieser ohrenbetäubenden Stille vom dunklen Tuch meiner Kamera und der auf dem Kopf stehenden Projektion der Welt auf dem Mattglas umschlossen zu sein. Ich stand im Zentrum dieser Gegend, die verflucht war von den Perversionen des Kriegs, von Tod und Mord, wo absolut nichts überlebt hatte, noch nicht einmal die Geschichte, und auf dem zwei Generationen lang nichts errichtet worden war.
 
Wenn ich mir meine Ergebnisse anschaue, wirken sie anonym. Ereignislos, ruhend, flach tragen sie keine Spur dessen weiter, was dort im Krieg alles passiert ist. Zwei Millionen Menschen liegen unter dem ganzen Schnee begraben. Zwei Millionen Blicke und Perspektiven sind auf die Banalität der schneebedeckten Landschaft reduziert und rufen Emotionen hervor, die so flach sind wie die Geradlinigkeit des Horizonts.
 
Auf 49°02’46.8”N 44°08’08.6”E (Bild oben) durchbohrt tote Vegetation das Schneeweiß. Eine kleine Schlucht führt die Augen der Betrachtenden zum Horizont und teilt die Komposition in zwei Teile auf. In der Ferne reihen sich geometrisch gepflegte, verkümmerte Felder mit Strommasten ein. Das Schwarz der Gräser und des Drecks, der sich am Rande der Schlucht auftut, reißt den starken Kontrast zwischen dem weißen Himmel und dem Schnee ein. Die Fotografie ist hyperfokal: Alles erscheint gestochen scharf. Die Körnung des orthografischen Films ist besonders fein und kaum wahrnehmbar. Aus fotografischer Sicht versteckt sie nichts innerhalb der 8x10-Zoll Negativrahmen.

 

X.
 
Der Acker hinterließ in mir den Gedanken, ob die Großformatabbildungen der ungefähren Ruhestätte meines Großonkels nicht noch künstlicher, synthetischer und entfernter von den Erinnerungen sind, die ich mit dem Algorithmus schaffen wollte. Die erhabenen digitalen Bilder, die die Maschine produziert, sind wesentlich reaktiver, voller Gefechte, die Vorstellungen in mir auslösen. Im Gegensatz dazu transmutiert die aktuelle idyllische, banale Landschaft nichts als Bewegungslosigkeit und die Empfindung eines Nichts, das das Verschwinden eines Verwandten übersteigt. 
 
Für mich persönlich sind es Stille und Leere, die die Bedeutung dieser Erfahrung schaffen. Als Unterschrift für das Werk habe ich die GPS-Koordinaten ausgewählt. Namenlos tragen sie einen Code, der dem Ort historische und persönliche Tragweite zuschreibt. Räumlich verorten sie die Stätte eines Schlachtfelds, zeitlich sind sie von der Schlacht fast acht Jahrzehnte entfernt.
 
Darum entschied ich, sie nicht als Schlachtfeld zu bezeichnen. Ich lasse Ihre Bedeutung im Geheimnis eines Koordinationscodes verweilen. Diese Landschaft verkörpert jetzt dieselbe Blackbox wie die KI, in einer diskreten Bedeutungskodifizierung, die ich dem Bild zugewiesen habe.

 

Amsterdam, im September 2022
 

«Silent Hero» ist eine Untersuchung der Erinnerungen  Alexey Yurenevs an seinen  Großvater und dessen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die seit seinem Tod im Jahre 2009 verloren gegangen sind. 

Alexey Yurenev
Alexey Yurenev ist Fotograf, Bildforscher und Pädagoge und arbeitet zu den Themen Erinnerung und Synthetik. Seine Dokumentarprojekte wurden in der New York Times, National Geographic, Aljazeera, Yahoo!, Topic und Literary Hub veröffentlicht. Im Jahr 2020 war Yurenev Mitbegründer einer Plattform, die sich innovativen visuellen Strategien widmet, FOTODEMIC.org, und wurde Fakultätsmitglied am International Center of Photography in New York. Derzeit lebt Yurenev in den Niederlanden und absolviert einen Masterstudiengang für Fotografie und Gesellschaft an der Königlichen Kunstakademie in Den Haag.
Patrick Ploschnitzki
Dr. phil. Patrick Ploschnitzki ist Gastprofessor für deutsche Sprache und Kultur an der University of Florida. In seiner Forschung untersucht er soziokulturelle Diskurse im Kontext von Synchronisation, sowie das sog. ‚Synchrondeutsch‘ im Zusammenhang mit US-amerikanischem Fernsehen. Weitere Forschungsinteressen sind der Einsatz von Online Übersetzungswerkzeugen im Fremdsprachenunterricht sowie die Verbindungen zwischen populären Medien und literarischen Traditionen, wie etwa neu definierte Heimatbilder in zeitgenössischen Punk- und Rap-Texten.
Fußnoten und Literaturverzeichnis
[1] Flusser, Vilém. Interview by Miklós Oeternák, the Osnabrük New Media Festival 1988. Other. The Osnabrük New Media Festival 1988, n.d.
[2] The Fifth Element . United States: Columbia Pictures, 1997. 
[3] «Evgenii Khaldei.» International Center of Photography, December 7, 2018. https://www.icp.org/browse/archive/constituents/evgenii-khaldei.
[4] Lowndes, Coleman. «Why the Soviets Doctored This Iconic Photo.» Vox. Vox, October 2, 2018. https://www.vox.com/videos/2018/10/2/17928052/soviets-doctored-wwii-photo-reichstag-iwo-jima-world-war-ii.
[5] Marianne Hirsch, «The Generation of Postmemory,» Poetics Today, v. 29 #1, Spring 2008, 103.
[6] Landsberg, Alison. Prosthetic Memory: The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia University Press, 2006.
[7] Flusser, V. «Towards a philosophy of photography». Reaktion, p10
[8] Flusser, V. «Post-history», Univocal, p57
[9] Azoulay, A., «What is a photograph? What is photography?», Philosophy of Photography (2010) 1: 1, pp. 9–13
[10] Stultiens, A.G.E., «Ebifananyi : a study of photographs in Uganda in and through an artistic practice», Universiteit Leiden 2018, p15
[11] Derrida J. And Prenowitz E, Archive Fever: A Freudian Impression, Diacritics, Vol. 25, No. 2 (Summer, 1995), p9
[12] Ketelaar, Eric. «Tacit Narratives: The Meanings of Archives.» Archival Science 1, no. 2 (2001), p132
[13] «Truth, the First Casualty’ Part I/II Essay by Stephen Mayes.» FOTODEMIC. https://www.fotodemic.org/truth-the-first-casualty.

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