Feldarbeit

Ich fühle was,
was du nicht siehst 

 

Wir alle kennen das Kinderspiel «Ich sehe was, was du nicht siehst». Die Kommunikationsdesignerin und Fotografin Julia Bohle nahm diesen Satz und wandelte ihn ab in «Ich fühle was, was du nicht siehst», um zu beschreiben, wie Menschen mit besonderer Sensibilität empfinden. Im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit fragte sie sich: Wie lassen sich die Wahrnehmungen von Menschen mit Hochsensibilität anhand des Mediums Fotografie visualisieren? Für ReVue fasst sie ihre Erkenntnisse zusammen – und zeigt Ausschnitte aus der Foto-Serie, die parallel dazu entstanden ist.

Text und Fotos — Julia Bohle — 23.03.2024

Was macht Menschen mit Hochsensibilität aus? Sie reagieren ungewöhnlich stark auf Reize wie Geräusche, Gerüche, Berührungen, Lichter. Umwelteinflüsse werden anders verarbeitet. Zudem sind sie generell emotionaler und kosten bestimmte Erfahrungen mehr aus. Die hohe Ansprechbarkeit auf Reize kann daher positiv wie negativ sein. Hochsensibilität ist auch nicht als Krankheit zu verstehen. Vielmehr liegt sie auf dem oberen Ende der Skala für Sensibilität.

Der praktische Teil meiner Arbeit, die sogenannte «persönliche Sammlung aus Bildern und Texten», soll das tiefe Empfinden und Wahrnehmen hochsensibler Menschen widerspiegeln.

Wie lassen sich besondere Arten der Wahrnehmungen sichtbar machen?

Mein Interesse an der Frage, inwiefern das Medium Fotografie in der Lage ist, diese noch feineren und intensiveren Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle von hochsensiblen Menschen zu visualisieren, erwies sich als Herausforderung.

Für mich gelang dies, indem ich mich mit den Arbeiten anderer Fotografinnen und Fotografen, Künstlerinnen und Künstler auseinandersetze. Der «Magische Realismus», die «Subjektive Fotografie» sowie die Arbeiten von Rinko Kawauchi, Sascha Weidner und Sybille Fendt haben meine Herangehensweise und die praktische Umsetzung dieses Projektes geprägt.

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«Manchmal vergesse ich, dass du nicht mehr hier bist.»

Vorbilder in der Fotografiegeschichte

Elementar im Magischen Realismus ist die Darstellung einer Vision der Realität mit dem Einsatz von fantastischen Elementen. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie verschwimmt, weitere Kernessenzen sind das intuitive Einsetzen magischer Elemente sowie der Aspekt der Zeitverzögerung durch das Mischen von Vergangenheit und Gegenwart. Als Stellvertreterin dieser Kunstrichtung steht die Fotografin Rinko Kawauchi.
 
Hier finden sich Parallelen zu meiner fotografischen Praxis, die ebenfalls eine metaphorische Ebene sowie eine tiefgründige, fast halluzinatorische Wirkung gewöhnlicher Momente enthält. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Verwendung von brillantem und strahlendem Licht, das eine fantasievolle und melancholische Wirkung erzeugt. Unterschiede bestehen jedoch in der Farbwelt: Kawauchi arbeitet mit sanften Farben, in meiner Arbeit wende ich dagegen starke Kontraste sowie eher dunklere und kräftigere Farben an.


Objektive Welt und subjektive Interpretation 

Kernelemente der Subjektiven Fotografie sind die Auseinandersetzung mit der objektiven Welt sowie dem im Vordergrund stehenden Experiment. Zudem spielt hier das Vorhandensein einer subjektiven Interpretation sowie die Fantasie des Betrachters eine Rolle. In gestalterischer Hinsicht überwiegen abstrakte Formen, grafische Strukturen, radikale Ausschnitte, starke Kontraste sowie interessante Lichtsituationen.
 
Von beiden Richtungen inspiriert, versuchte ich in meiner fotografischen Arbeit durch metaphorische Bildmotive, Symbole und Atmosphären das innere Empfinden zu visualisieren und die Hochsensibilität auf eine verstecktere und abstraktere Art und Weise kenntlich zu machen.

«Durch metaphorische Bildmotive, Symbole und Atmosphären versuchte ich das innere Empfinden zu visualisieren und die Hochsensibilität auf eine verstecktere und abstraktere Art und Weise kenntlich zu machen.» – Julia Bohle

Die Grenzen der Darstellung

Jede Betrachtungsweise ist subjektiv und jedes Bild ruft ein anderes Empfinden und Gefühl hervor. Dazu tragen eigene persönliche Erfahrungen des Betrachters bei. Durch Inszenierungen des Bildmotives sowie bestimmte Aufnahmetechniken habe ich versucht, das Bild so einzufangen, dass es dem Betrachter etwas erzählt oder eine Emotion in ihm auslöst.

In der «persönlichen Sammlung aus Bild und Text» hoffte ich die feinen Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle hochsensibler Menschen sichtbar und erlebbar zu machen. Reicht die Fotografie allein dafür aus?
 
Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass die Fotografie zweifellos in der Lage ist, feine Wahrnehmungen und Empfindungen sichtbar zu machen. Jedoch führt die Kombination von Bild und Text zu einer tieferen und komplexeren Ebene und ermöglicht dem Betrachter ein einfacheres Verständnis für hochsensible Menschen.

«Durch die Verknüpfung von Bild und Text konnte ich eine Verbindung zwischen meiner Imitation und der Interpretation der Wahrnehmung des jeweiligen Gesprächspartners herstellen.» – Julia Bohle

Es ist allerdings nicht möglich, die Empfindungen und Gefühle anderer Menschen, mit denen ich im Zusammenhang mit dieser Arbeit ins Gespräch gekommen bin, eins zu eins zu visualisieren. Denn letztendlich fotografiere ich aus meiner Sicht und meiner eigenen Interpretation des Erzählten. Ich kann jedoch einen Ansatz finden, ein Gefühl bildnerisch zu imitieren und widerzuspiegeln. Durch die Verknüpfung von Bild und Text konnte ich eine Verbindung zwischen meiner Imitation und der Interpretation der Wahrnehmung des jeweiligen Gesprächspartners herstellen.

Die Sammlung

Meine «persönliche Sammlung» besteht daher aus 24 Fotografien, die von Texten begleitet sind. Sie entstanden vor allem durch den aktiven Austausch mit hochsensiblen Menschen, die meine Arbeit sehr inspiriert haben. Es zeigte sich, dass die Kombination von Bild und Text essentiell für meine Arbeit ist.
 
Die Texte stammen aus drei verschiedenen Quellen: Zum einen handelt es sich um Kernaussagen aus den geführten Interviews mit den Teilnehmern. Zweitens fließen deren Bildbeschreibungen mit ein, die im Austausch mit mir entstanden sind. Drittens habe ich eigene persönliche Texte hinzugefügt. Durch die unterschiedlichen Darstellungsebenen möchte ich die Komplexität des Persönlichkeitsmerkmals Hochsensibilität sowie das intensive Erleben auf verschiedenen Ebenen zeigen.

Die fotografische Ausführung erfolgte größtenteils parallel zu den verschiedenen Bearbeitungsschritten meiner Arbeit. Viele meiner Fotografien sind im Rahmen meines visuellen Tagebuchs und alltäglichen Momentaufnahmen entstanden. Jedoch sind einige Fotografien auch gezielt inszeniert und konzipiert. Somit entstand eine Mischung aus alltäglichem, intuitiven Fotografieren und inszenierten Bildern. 

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«Ein Sensor im Auto misst den Abstand zum Vordermann. Im Normalfall merkt man es nicht. Aber es geschieht permanent. So ist es auch  mit der eigenen Sensorik, die immer den gesamten Scan aufnimmt. Das ermüdet. Andererseits ist es auch eine Möglichkeit, Dinge in wesentlich komplexeren Zusammenhängen zu sehen.» – Claudius

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«Wasser ist ein supersensibles Element und die Person sieht so verletzlich aus. Das Wasser gibt ihr zwar irgendwie eine Art Geborgenheit, in der sie ruht, aber trotzdem scheint diese, als wäre sie leicht zu durchbrechen. Als müsste nur ein Windstoß kommen, der das Wasser bewegt und der Körper darin würde zusammenzucken.» – Smilla

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«Ich spüre wieder wie schwach meine Beine werden. Keine Kraft mehr. Die Stadt erdrückt mich jedes Mal aufs Neue.»

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«Dunkle Flecken, Finsternis oder Schatten bedeuten für mich einen Kontrollverlust. Wenn sich eine Situation nicht vollkommen einsehen lässt, kann
sich vieles dahinter verstecken. Bei Dunkelheit geht die Fantasie schnell mit mir durch und alles überschlägt sich. Ich schätze es, die Übersicht zu behalten.» – Marie

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«Meine Gedanken, klar und scharf.»

Julia Bohle
Die Künstlerin Julia Bohle, Jahrgang 1997, kommt ursprünglich aus Gummersbach bei Köln. An der Fachhochschule Potsdam studierte sie Kommunikationsdesign. Derzeit lebt sie in London und macht dort am Londoner Royal College of Art einen Master-Abschluss in Fotografie. 
In ihren Projekten verfolgt Julia Bohle einen sinnlichen Ansatz und strebt die Darstellung des inneren Selbst im fotografischen Bild an. Ihre Arbeiten erkunden die Komplexität der eigenen Identität sowie die Visualisierung feiner Wahrnehmungen, Gefühle und Emotionen. Dabei positioniert sich Bohle im Kontext zeitgenössischer Diskurse über Weiblichkeit, das verkörperte Selbst und seine Gefühle sowie komplexe Wünsche und Ängste. Die Bilder aus ihrer Foto-Serie über Hochsensibilität waren während des European Month of Photography 2023 in der Gruppenausstellung «Drängende Gegenwart» in Berlin zu sehen.

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