Feldarbeit
Saaten der Verschwörung
Klaus Pichler im Gespräch mit Claudia Kursawe — 18.04.2024
Fotos — Klaus Pichler
Die Mär der «Mystery Seeds» entstand während der Corona-Pandemie. Im Sommer 2020 erhielten mehrere Tausend Haushalte in den USA plötzlich merkwürdige Post: Es waren kleine Päckchen mit Pflanzensaaten aus China, die sie nie bestellt hatten. Das sorgte nicht nur für Verwunderung, sondern auch für Angst. Schnell verbreitete sich das Gerücht, China setze konterminiertes Saatgut als biologische Waffe gegen Amerika ein.
Doch das war weit gefehlt. Stattdessen stellte sich heraus, dass die Aktion ein fehlgeschlagener Werbegag war. Unbekannte Händler hatten harmlose Geschenkpäckchen mit den Saaten von Mais, Sonnenblumen, Erbsen und Kräutern an Tausende Empfänger in den USA versendet – mit der Bitte, ihre Firma dafür im Internet positiv zu bewerten. «Brushing Scam» nennt man diese Masche. Die Händler versprachen sich davon ein besseres Ranking, wenn Menschen im Netz nach Saatgut suchten.
Der Fotokünstler Klaus Pichler aus Wien nahm davon Notiz – und ließ daraus ein ganz eigenes, ebenso gruseliges wie metaphorisches Fotoprojekt reifen.
Der Fotograf als Gärtner
Claudia Kursawe: Haben Sie tatsächlich für Ihr Foto-Shooting chinesisches Saatgut organisiert und zum Keimen gebracht?
Klaus Pichler: Ja, erst habe ich versucht, die in Amerika konfiszierten Päckchen zu bekommen und mehrere Abteilungen der Amerikanischen Landwirtschaftsbehörde für Pflanzengesundheit angeschrieben. Als das nicht klappte, habe ich mir über das Internet rund 400 Päckchen chinesisches Saatgut schicken lassen. Die Originalverpackungen mit chinesischen Schriftzeichen waren für mein Fotosetting wichtig.
Warum haben Sie sich für aufwendige Makroaufnahmen in der Anfangsphase der Pflanzen entschieden?
Der Fokus auf den Wachstumsprozess einer Pflanze passt gut zur Entstehung einer Verschwörungstheorie. Es braucht nicht viel, damit die sozialen Medien als Lautsprecher und Verstärker einer vollkommen haarsträubenden Erzählung dienen und diese bei entsprechender Weiterverbreitung immer gewaltiger werden lassen. Meine Makroaufnahmen sind visuelle Metaphern dafür, wie unbegründete Annahmen zu Lügengespinsten heranwachsen können.
«Behauptungen werden in voller Absicht mit Bildern verknüpft.» — Klaus Pichler
Wenn Mutmaßungen freie Bahn haben
Ihre Bilder sind in Ihrem Fotobuch gleich zu Beginn mit Texten kombiniert, die eine bedrohliche Atmosphäre erzeugen. Spielen Sie mit dem Betrachter?
Für die Kontextualisierung des Fotografie-Projektes habe ich intensiv recherchiert. Ich habe Pressemitteilungen der amerikanischen Landwirtschaftsbehörde zu dem Vorfall, Aussagen von FOX-TV, Statements von amerikanischen Politikern, Screenshots von YouTube und Twitter mit einfließen lassen. Eine kleine Auswahl dieser Texte habe ich an ganz bestimmten Stellen platziert. Ob ich mit dem Betrachter spiele? Ich arbeite mit dem, was tagtäglich abläuft: Behauptungen werden in voller Absicht mit Bildern verknüpft.
Was genau passierte damals in der amerikanischen Öffentlichkeit?
Das USDA (United States Department of Agriculture) veröffentlichte eine ausdrückliche Warnung vor den unerwünscht zugesandten Päckchen aus China. Sie verkündeten: «Unsere größte Sorge ist, dass dieses Saatgut schädliche Organismen oder Krankheiten einschleppen könnte, die der amerikanischen Landwirtschaft schaden könnten.» Noch am selben Tag eskalierte die Situation. Von nun an hatten die Mutmaßungen freie Bahn und jedes vernünftige Argument blieb ungehört. Der Landwirtschaftsbeauftragte von Kentucky, Ryan Quarles, verlautbarte: «Wir haben nicht genug Informationen, um zu wissen, ob es sich um einen Scherz, einen Streich, einen Internetbetrug oder einen Akt des landwirtschaftlichen Bioterrorismus handelt.» Dieses Zitat im englischen Wortlaut hat später meinem Fotobuch zu dem Projekt den Titel gegeben.
Was hat Sie selbst bei den Recherchen überrascht?
Die Eigendynamik der Politisierung verlief rasend schnell. Am 28. Juli 2020 wurde die Verschickung der Saatenpäckchen bemerkt. Drei Tage später hatte sich bereits die Behauptung unter den Republikanern durchgesetzt, es gäbe einen Biowaffen-Angriff aus China. Für seriöses Nachforschen blieb keine Zeit. Hier zeigt sich eine aktuelle Tendenz. Der Stellenwert von Fakten sinkt, während Vermutungen und falsche Annahmen sich durchsetzen. Das bringt uns direkt zu einer verbreiteten Wissenschaftsskepsis. Es entstehen parallel mehrere Wahrheiten, eine brandgefährliche Mischung.
«Es entstehen parallel mehrere Wahrheiten, eine brandgefährliche Mischung.» — Klaus Pichler
«Pflanzen haben in ihrer Anmutung oft etwas Außerirdisches.» — Klaus Pichler
Welche künstlerischen Vorbilder haben Sie und wie sind Ihre Bilder entstanden?
Meine Vorbilder für Kontextualisierung von Fotografien sind Joel Sternfeld und Raphaël Dallaporta. Außerdem sind Science-Fiction-Filme sehr inspirierend für mich, vor allem die älteren aus den 60er Jahren. Sie spiegeln das alte Muster während des Kalten Krieges von Gut und Böse wider und handeln von mutierten, radioaktiv veränderten oder außerirdischen Pflanzen, die die Menschen entweder fressen oder alles überwuchern. Pflanzen mit ihren Härchen und Wurzeln haben in ihrer Anmutung ja tatsächlich oft etwas Außerirdisches. Fotografiert habe ich mit einem umgebauten Mikroskop-Objektiv auf einer Art Schlitten mit Infrarot-Steuerung. Es entstanden 70 bis 100 Einzelbilder von einem einzigen Saatkorn, die anschließend zusammengefügt wurden.
In der Mitte Ihres Buches kommt es zur Auflösung der Verschwörungserzählung durch ein kurzes Statement des United States Department of Agriculture (USDA) aus dem August 2020, dass es sich nur um harmloses Saatgut zwecks Internet-Werbung handelte. Doch die Bilder in Ihrem Fotobuch steigern sich in ihrer unheilvollen Ästhetik und werden geradezu monströs. Warum?
Das ist der Twist der Geschichte. Selbst wenn sich alles aufgeklärt hat, bleiben die Ängste und Fehlinformationen lebendig. Sie wachsen sogar weiter. Das Denken ist wie aufgespaltet zwischen dem, was man weiß, also Fakten, und dem, was man sieht – ähnlich wie bei Verschwörungstheorien, bei denen die Leute, die an sie glauben, daran festhalten, auch wenn alle Fakten dagegen sprechen.
Klaus Pichler lebt in Wien. Sein Studium der Landschaftsarchitektur hat er 2005 abgeschlossen. Seitdem arbeitet er als freischaffender Fotograf, der sich sowohl Auftragsarbeiten als auch freien Projekten widmet. Sein fotografisches Interesse gilt der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt und den gerne übersehenen Aspekten des Alltagslebens. Dabei spielt die Naturwissenschaft und ihr gesellschaftlicher und politischer Diskurs eine wichtige Rolle.
Sein neues Fotoprojekt ist zurzeit Teil der Sonderausstellung: «Hier nagt nicht nur der Zahn der Zeit. Museumskäfer, Motten, Schimmel und der Klimawandel» im Naturhistorischen Museum Wien. Das Fotobuch: «A hoax, a prank, an internet scam, an act of agricultural bio-terrorism» ist im Eigenverlag/Nearest Truth Editions 2023 erschienen und hier bestellbar.
Claudia Kursawe studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Publizistik. Als Kulturjournalistin und Redakteurin arbeitete sie einige Jahre in Athen, war Theaterkritikerin im Ruhrgebiet und danach freie Journalistin in Zürich. Derzeit lebt sie in Berlin und berichtet seit mehreren Jahren regelmäßig für «Photonews» über neue Ausstellungen in verschiedenen Städten und porträtiert Künstler und Künstlerinnen. Sie ist in die Deutsche Gesellschaft für Photographie berufen worden und seit 2023 Redakteurin bei ReVue.
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