Im Kopf

Heiliger Stilbruch. 
Meme, Mode und mentale Bilder

Text — Hennric Jokeit — 21.06.2023

Eine künstliche Intelligenz kleidete den Papst zu Ostern in einen Daunenmantel à la Balenciaga – und schon ging einem das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Was geht da vor sich? Dr. Hennric Jokeit, Professor für Neuropsychologie und Fotograf, sagt: Betroffene werden von einer Art «visuellem Hirnwurm» befallen. Zum Glück lässt sich dagegen aber etwas tun.

230331_papst_bild-reddit

Das linke Bild von Papst Franziskus wurde erstmals am 24. März 2023 in einem Reddit-Forum über das generative AI-Tool Midjourney gepostet, mit dem es vermutlich erstellt wurde.

Der Papst als Meme

Auch ihn traf es unvorbereitet. Papst Franziskus war zu Ostern wieder in aller Munde. Nicht sein Segen, nicht ein Unfall oder eine missverständliche Bemerkung waren der Grund, sondern ein unbekanntes Porträt, das über Nacht zum Meme wurde. Es zeigt ihn in dynamischer Pose in einem voluminösen weißen Daunenmantel im Balenciaga-Stil. Der anmutige Schein päpstlicher Autorität, Reinheit und Bescheidenheit verliert sich in einem fulminanten semantischen Clash unter der extravaganten Hülle eines der coolsten Luxuslabels, das gerne androgyne Künstlerinnen modeln lässt.

Je länger man über den ikonischen Oberhirten im Balenciaga-esken Schäfermantel nachdenkt, desto mehr vervielfältigen und verkehren sich die Widersprüche: Was ist high, was ist low? Was ist profan, was erhaben? Was ist Demut, was Arroganz? Was ist Blasphemie, was Kunst? Was ist Kapitalismus, was Religion? Was ist wahr, was falsch? Fragen, die auch Maurizio Cattelan 1999 mit seiner Skulptur «La Nona Ora» (Die neunte Stunde) aufwarf, die den von einem Meteoriten getroffenen Papst Johannes Paul II. zeigt. Begleitet von heftigen Kontroversen verbreiteten sich Bilder seiner Skulptur schon damals wie ein Meme.

«Je länger man über den ikonischen Oberhirten im Balenciaga-esken Schäfermantel nachdenkt, desto mehr vervielfältigen und verkehren sich die Widersprüche: Was ist high, was ist low? Was ist profan, was erhaben? Was ist Demut, was Arroganz? Was ist Blasphemie, was Kunst? Was ist Kapitalismus, was Religion? Was ist wahr, was falsch?» — Hennric Jokeit

Der visuelle Hirnwurm

Was zeichnet diese Papst-Memes aus? Sie sind visuell einfach zu lesen und doch äußerst überraschend, neu, emotional und paradox. Da sie unseren Verstand und unsere Emotionen provozieren, dringen sie unwillkürlich in unser Gedächtnis ein und verbreiten sich so viral.

Kurz nach Ostern erzählte mir eine befreundete Fotoredakteurin, dass sie morgens mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht sei. Das Bild des heiligen Franziskus von Balenciaga, das sie am Vorabend in verschiedenen Medien gesehen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es hatte sich wie ein lästiger Ohrwurm in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Versucht man zu verstehen, wie unwillkürliche Bilder im Gehirn entstehen (involuntary visual imagery), wird es schnell kompliziert und spekulativ. Klar ist, dass Sehen und darüber Sprechen allein keinen visuellen «Hirnwurm» erzeugen. Es müssen noch andere Kräfte wirken, damit das visuelle Gedächtnis uns von Zeit zu Zeit ein Bild ins Bewusstsein schleudert.

Mit dem Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud, könnte man argumentieren, dass ein immer wieder unwillkürlich auftauchendes inneres Bild auf unerfüllte Wünsche, verdrängte Gedanken oder Erinnerungen zurückzuführen ist, die ins Bewusstsein vorzudringen versuchen.

Die hartnäckige Wiederholung des ikonoklastischen Papstbildes könnte als eine Art Kompromissbildung gesehen werden, mit der das Unterbewusste auf symbolische Weise versucht, Verdrängtes ins Bewusstsein zu heben, ohne es offen zu legen. Die Freundin würde diese Deutung sicherlich zurückweisen, aber es liegt in der Natur des Menschen, seine eigene Denkweise misszuverstehen.

Wie Gedächtnisspuren Erinnerungsbilder erzeugen

Gedächtnisspuren von visuellen (Farbe, Form) und semantischen (Name, Funktion) Merkmalen sind Informationen, die im limbischen Teil des Temporallappens so verknüpft werden, dass sie in der Sehrinde des Großhirns ohne retinale Stimulation bewusste Erinnerungsbilder erzeugen können. Dies gilt aber für alle mentalen Bilder, unabhängig davon, ob sie willkürlich oder unwillkürlich erzeugt werden.

Flüchtige innere Bilder hinterlassen wie Phantome kaum greifbare Spuren im experimentell vermessbaren Gehirn und Verhalten und sind daher der Forschung nur schwer zugänglich. Aus retrospektiven Befragungen ist jedoch bekannt, dass innere Bilder gehäuft in Momenten des Nichtstuns auftreten, wenn sich Menschen schläfrig, einsam, müde oder gelangweilt fühlen oder einer wenig anstrengenden Tätigkeit nachgehen. Nur in diesen entspannten mentalen Zuständen (resting state) kann der visuelle Hirnwurm bewusst werden. Dabei ist er wohl nur ein funktionsloses Epiphänomen.

Er ist, so spekulieren Forscher, nur der Rauch neuro-elektrochemischer Konsolidierungsprozesse, die über mehrere Wochen zur Bildung einer dauerhaften Erinnerungsspur im Langzeitgedächtnis führen. Das könnte bedeuten, dass die Gehirnwürmer nach einigen Wochen von selbst verschwinden. Doch die Sache hat einen Haken: Jede Erinnerung, auch die unwillkürliche, löst erneut einen Konsolidierungsprozess aus; wo Rauch ist, ist auch Feuer.

«Nur in entspannten mentalen Zuständen kann der visuelle Hirnwurm bewusst werden. Dabei ist er wohl nur ein funktionsloses Epiphänomen» — Hennric Jokeit

Halluzinationen, willkürliche und unwillkürliche mentale Bilder, Synästhesien, Wahrnehmungsvervollständigungen und viele optische Täuschungen sind bewusste visuelle Phänomene ohne einen entsprechenden Netzhautreiz. Solche «Phantomwahrnehmungen» zeigen, dass unser visuelles Erleben eben nur zum Teil durch direkte Sinneseindrücke bestimmt wird.

Wahrscheinlich war es Hermann von Helmholtz, der 1860 als Erster darauf hinwies, dass das Gehirn uns nicht die Netzhautbilder selbst, sondern die Ursachen ihrer Entstehung präsentiert. Da diese Ursachen für uns nicht direkt wahrnehmbar sind, müssen sie aus den Sinnesreizen erschlossen werden. Schließlich nehmen wir die Welt mehr oder weniger so wahr, wie sie ist, und nicht so, wie das Bild auf der Netzhaut suggeriert, nämlich je nach Entfernung unterschiedlich groß und in einer Farbe, die mehr von den Lichtverhältnissen als von der Farbe des Gegenstandes abhängt.

Helmholtz folgerte daraus, dass das Gehirn die Bedeutung der Umwelt aufgrund seines Wissens rekonstruiert und nicht ihre physikalischen Eigenschaften abbildet. Das Gehirn nimmt also nicht passiv wahr, sondern konstruiert ein meist plausibles Modell, dessen Ungenauigkeiten und Fehler uns jedoch verborgen bleiben. 

Während Helmholtz die Bedeutung von Vorinformationen aus dem Gedächtnis betonte, beziehen neuere Modelle auch Vorhersagen zukünftiger Ereignisse in das ein, was wir Wahrnehmung nennen. Denn die einzig sinnvolle Funktion des Gedächtnisses ist die Vorhersage. Die Seherfahrung ist demnach immer ein dynamischer Dreiklang aus Vorerfahrung, aktueller retinaler Stimulation und Vorhersage zukünftiger Bedingungen und Ereignisse. Das bedeutet, dass Vergangenheit und Vorhersage zusammen einen viel größeren Einfluss auf die Wahrnehmung haben können als das aktuelle Netzhautbild.

Von Phantomwahrnehmungen und Hirn-Konstruktionen

«Vergangenheit und Vorhersage zusammen können einen viel größeren Einfluss auf die Wahrnehmung haben als das aktuelle Netzhautbild.» — Hennric Jokeit

Wie man den Hirnwurm vertreibt

Was also qualifiziert den Balenciaga-Papst zum visuellen Hirnwurm? Eine Gemengelage aus kortikalem «Ruhezustand», unbewusster, nicht abgeschlossener kognitiver Verarbeitung eines Bildes und dessen Gedächtniskonsolidierung. Der Erfolg eines Bildes als Meme weist also auf dieselben Eigenschaften hin, die auch einem visuellen Hirnwurm eigen sind. Wie auch Ohrwürmer haben visuelle Hirnwürmer eine unterkomplexe Oberflächenstruktur, die mit widersprüchlicher Semantik und komplexer Affektivität in Resonanz tritt und während der aktiven Gedächtnisbildung ins Bewusstsein dringt.

Ein Ohrwurm wird schlimmer, wenn man den peinlichen Schlager mitsingt, während Kaugummikauen helfen soll, ihn aus dem Kopf zu bekommen. Was sind die visuellen Entsprechungen, wenn der visuelle Hirnwurm lästig wird? Man sollte sein visuelles Gehirn gut beschäftigen, um dem Wurm keine Schlupflöcher in der Großhirnrinde zu lassen und man sollte versuchen, ihm seine Bedeutung zu nehmen: Der Balenciaga-Papst ist nur das Bild einer KI und kein Werk von Maurizio Cattelan.

Prof. Dr. Hennric Jokeit
Hennric Jokeit (geb. 1963 in Stralsund) ist ein deutscher Neuropsychologe und Fotograf, der in Zürich lebt und arbeitet. Jokeit ist Titularprofessor für Neuropsychologie an der Universität Zürich und leitet das Institut für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung an der Schweizerischen Epilepsie-Klinik. Seit 2000 ist er auch fotografisch tätig. Seine Fotografie setzt sich kritisch mit gesellschaftlichen Prozessen sowie mit den Grundlagen von Wahrnehmung und Fotografie auseinander. Von ihm sind bisher drei Fotobände erschienen. Seine Arbeiten werden international in Galerien, auf Messen und Festivals ausgestellt. 

Mehr ReVue
passieren lassen?

Der ReVue Newsletter erscheint einmal im Monat. Immer dann, wenn ein neuer Artikel online geht. Hier en passant abonnieren.

Sie möchten unsere Arbeit
mit einer Spende unterstützen?
Hier en passant spenden!

revue-wortmarke-w3

Fotografie ist allgegenwärtig, wird aber in den journalistischen Medien noch wenig hinterfragt oder erklärt. Wer an Journalismus denkt, denkt an Texte. Das digitale Magazin ReVue verfolgt einen anderen Ansatz: Es nähert sich den Themen vom Bild her. In unseren Beiträgen untersuchen wir die Rolle und Funktion von Bildern im Verhältnis zum Text, zur Wahrheit, zum politischen oder historischen Kontext. Wie nehmen wir Bilder wahr? Welche Geschichte steckt dahinter?
Unsere Beiträge erscheinen auf Deutsch, wir übersetzen aber auch fremdsprachige Texte und erleichtern so den Wissenstransfer zu einer deutschsprachigen Leserschaft.
ReVue ist unabhängig. Die Redaktion arbeitet ehrenamtlich. ReVue ist ein Projekt der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.

Herausgeberin

DEJAVU
Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. 
Methfesselstrasse 21
10965 Berlin

ReVue ISSN2750–7238

ReVue wird unterstützt von

Bild-Kunst-Kulturwerk
GLS_ZSMuG_white
img-bluepebble