«Dialoge» – so heißt die Kolumne von Ettore Molinario, einem der einflussreichsten Sammler von Fotografien in Italien. In jeder Ausgabe nimmt er sich zwei Werke aus seinem Besitz vor, tritt mit ihnen in Kontakt, spricht mit ihnen und über sie.

Dialog #2 
Das Sonnenlicht entfernen

Text — Ettore Molinario                        
Übersetzung — Zora del Buono

Aus dieser schwarzen Pupille hatte er das Zentrum seines Sonnensystems gemacht. Sie war der Stern, sie war das Licht, sie blendete. Der Erde und ihren Bewohnern blieb nur, den Gesetzen der Astronomie zu folgen, und sie zu umkreisen, indem sie sich der Ellipse des ovalen Rahmens entlang bewegten, der dieses Auge des Feuers isolierte.
 
Als die Gräfin von Castiglione den Fotografen Pierre-Louis Pierson bittet, sie in dem berühmten «Scherzo di follia» (dem Scherz der Torheit) zu porträtieren, war alles nur noch Erinnerung – das Leben am Pariser Hof, die Leidenschaft Napoleons III., die Bälle, das Kleid der «Königin der Herzen» (eines der gestickten Herzen ist über die schmale Taille hinausgewachsen, dorthin, wo der Kaiser seine italienische Geliebte liebte).
 
Aber trotz der Niederlagen der Geschichte kann man sich nicht von sich selbst entfernen, und die Gräfin, die erste Exzentrikerin, die erste Narzisstin des fotografischen Zeitalters, die erste, die die unendliche Vielfalt weiblicher Imagination durch die Fotografie interpretierte – Kaiserin, Witwe, Prostituierte, Mörderin, Nonne, Madonna, Sterbende – lenkte Pierson weiterhin, auf dass sein Objektiv ihre Schönheit und Extravaganz festhielte.
 
Die Dunkelheit erwischte sie im Alter von nicht einmal 40 Jahren, als sie in ihrer Wohnung an der Place Vendôme das tat, was der Mond hin und wieder für ein paar Minuten mit der Erde macht: das Sonnenlicht entfernen. Die Gräfin schloss die Fenster, schloss die Vorhänge, verhüllte die Spiegel mit schwarzen Stoffen und ging nur noch nachts aus dem Haus. Das Auge, das sich selbst nicht betrachten wollte, wurde zu einer ewigen Finsternis; die Gräfin stoppte nach Lust und Laune den ruhigen Lauf des Sonnensystems.

Dialog #1 
Die Suche nach
dem Selbst

Text — Ettore Molinario                        
Übersetzung — Zora del Buono

Der erste fotografische Dialog, den ich hier vorstellen möchte, zeigt den inneren Dialog einer Frau. Ihr Name ist Louise und sie schenkt ihrem eigenen männlichen Anteil Beachtung – sie wählt ihn, erklärt ihn.
 
Es ist das Jahr 1845. Erst sechs Jahre zuvor hatte François Arago in der Akademie der Wissenschaften in Paris die Geburt der Daguerreotypie und damit der Fotografie angekündigt. Dieses Bild erinnert daran, dass die Fotografie von Anfang an in der Lage war, die Suche nach dem Selbst, die Angst davor, die Notwendigkeit dazu und den Wert jener Erforschung zu erfassen.
 
Neben Louise, die möglicherweise Französin oder Engländerin ist, sieht man einen Mann von hinten, der Louise sein könnte, so sehr ähnelt er ihr. Ein Mann, der sich fünfzehn Jahre später, 1860, in den Vereinigten Staaten, der Kamera und ihrem entlarvenden Blick verweigert.
 
Sich zeigen, sich zurückziehen, sich offenbaren, sich verstecken…
 
Sich dem Unbekannten zu stellen, ist eine Herausforderung, manchmal ein gefährliches Spiel. Aber genau in dieser Spannung, in dieser Fülle von Beziehungen liegt das Herzstück meiner Sammlung, der Sinn ihrer Fortentwicklung und die Einladung, so hoffe ich, ihr zu folgen.

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