Theorie

Die Welt im eigenen Bild — eine kritische Betrachtung von Fred Ritchin 

Text — Fred Ritchin – 18.08.2023

Übersetzung — Patrick Ploschnitzki

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Dies ist ein synthetisch erzeugtes Bild - kein Foto: Fred Ritchin nutzte dafür DreamStudio, ein Computerprogramm, das mittels künstlicher Intelligenz nach Texteingabe artifizielle Bilder erzeugt. Er forderte das Programm auf, ein BIld eines Soldaten im Vietnamkrieg zu erstellen, der ein Selfie macht. Zu dieser Zeit gab es aber noch gar keine Smartphones.

Die traditionelle Fotografie hängt stark von der Perspektive der Fotografin oder des Fotografen ab. Hinzu kommt deren Talent, ein Bild einzufangen und damit eine Geschichte zu erzählen. Was passiert jedoch, wenn der Mensch aus diesem Verhältnis entfernt wird? Wenn keine Kameras mehr im Spiel sind, sondern die Bilder nur noch per Texteingabe in KI-Programme generiert werden? Und vor allem: Was, wenn diese Bilder nicht mehr von echten Fotografien wahrer Ereignisse zu unterscheiden sind?

Anwesend sein

Im Frühjahr saß ich allein in einem Park in New York und aalte mich im Sonnenschein, als mir jemand ein Bild zweier ukrainischer Soldaten auf mein Smartphone schickte. Nur wenige Meter von der Kamera entfernt kauerten sie zum Schutz dichtgedrängt in einer schroffen, verschneiten und steinigen Winterlandschaft. Das Foto war nur wenige Stunden vorher gemacht worden. Die Sonne, die mich umgeben hatte, war verschwunden.

Ich konnte mir die Geschosse und Kugeln vorstellen, die Erschöpfung und die Angst, und die Drohnen, die sich über den Köpfen ihren Weg bahnten, allzeit bereit zuzuschlagen und zu töten. Und dann schickte mir tags darauf derselbe Fotograf – ein junger Ukrainer und Freund von mir – ein fünfminütiges GoPro-Video, das ein Kollege gemacht hatte, der hinter ihm hergelaufen war.

Man konnte seinen schweren Atem hören, wie er so rannte und meinen Freund laut anschrie, sich flach auf den Boden zu werfen. Wäre er nicht so laut geworden, wäre mein Freund vielleicht verwundet oder getötet worden. «Du hast mir das Leben gerettet», sagt mein Freund in dem Video kurz darauf, als er sich im Schützengraben umdreht.

Er erzählte mir später, dass eine halbe Minute nachdem das Video endet, eine der beiden russischen Drohnen, die über ihnen gekreist waren, eine Granate auf sie abgeworfen hatte. Sie explodierte einen Meter entfernt, glücklicherweise nicht in dem Graben, in dem er versuchte, sich zu verstecken.

Es gehört viel dazu, ein Foto zu machen, anwesend zu sein, wo die Ereignisse geschehen. Die Sorge meines Freunds in der Ukraine, der die russische Invasion seit Beginn dokumentiert, war, dass viele der Kriegsgräuel in den Fotografien ungesehen bleiben. Denn sie passieren im Dazwischen, außerhalb des Rahmens, in der Luft, die uns umgibt. Doch dieses erste Bild, das er mir schickte, ließ mich zutiefst erschaudern. Alles, was er mir danach schickte, auch.

«Es gehört viel dazu, ein Foto zu machen, anwesend zu sein, wo die Ereignisse geschehen.» – Fred Ritchin

Der winzige Augenblick, in dem die Blende offen ist

Fotografische Repräsentation ist immer fragmentarisch; ein Teil einer Sekunde in einem viereckigen Rahmen. Aber das Publikum kann immer dazu verführt werden, sich das größere Ganze vorzustellen, während es sich Gedanken über das Gezeigte macht. Robert Doisneau, der legendäre französische Straßenfotograf, nannte das Buch über sein Lebenswerk «Three Seconds of Eternity» – als Fingerzeig auf den winzigen Augenblick, in dem die Blende offen ist. Diese wenigen Sekunden jedoch sind in der Lage, ein umfassenderes Verständnis der Welt hervorzurufen, eine Ewigkeit sogar.

Jede Fotografie ist eine höchst persönliche Interpretation. Sie ist beeinflusst davon, wie der Fotograf oder die Fotografin die entsprechende Szene wahrnimmt. Als Momentaufnahme des Sichtbaren aber ist jede Fotografie ein belastbarer Beweis, und diejenigen, die sie erschaffen, sind glaubwürdige Zeugen. Wenn es nicht im Wesentlichen eine Dokumentation wäre, würde die Fotografie weitestgehend zu einer Meinungsäußerung verkommen, die explizit subjektiv ist und damit keine Fotografie mehr – zumindest nicht im journalistischen oder dokumentarischen Sinne.

Einer der Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen drückte es so aus: «Ohne Fotografie würden Massaker nicht existieren. Ohne Druck auf Politikerinnen und Politiker kann man nichts verändern.» Die überlebenden Augenzeugen würden als zu subjektiv diskreditiert werden.

 

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Diese Straßenszene ist nicht echt – sie kann es gar nicht sein:  Fred Ritchin forderte das KI-Programm auf, ein Foto einer Straßenszene in Berlin im Jahr 1835 zu erstellen, die von einem berühmten deutschen Fotografen angefertigt wurde. «Ich habe diese Aufforderung für dieses und viele andere Bilder geschrieben, um zu erforschen, wie generative Systeme ‘ein Foto' in der Zeit vor der Erfindung der Fotografie erzeugen würden, das den Anschein einer historischen Aufzeichnung erweckt, die es nicht gibt», erklärt Ritchin.

Sollte man eher Augenzeugen oder einer Kamera Glauben schenken?

Mit dem Beginn des Zeitalters der künstlichen Intelligenz werden zunehmend Aussagen überlebender Augenzeugen herangezogen, um fotorealistische Bilder zu schaffen, die keine Dokumentationen sind. Eine Kamera ist hier nicht Teil des Schaffensprozesses. Stattdessen werden diese Bilder auf Grundlage von Textprompts generiert, und die Bilder, die dabei herauskommen und schließlich von Fotografien ununterscheidbar werden, werden zunehmend verwirren und schließlich die objektivbasierten Aufnahmen verdrängen.

Zum Beispiel wurde vor Kurzem in Ashkelon, Israel eine Ausstellung präsentiert, die synthetische Bilder traumatischer Kindheitserinnerungen von betagten Überlebenden des Holocaust zeigt. Die Ausstellung wurde als eine Art, «die Erinnerungen der Opfer der Shoah zu bewahren» dargestellt. Aber auch wenn dieses Erinnern für die Betroffenen vielleicht therapeutisch wirken kann, so fördert das Projekt auch das Vergessen.

Denn je mehr dieser bunten, lebhaften, dramatischen Bilder als Antwort auf Erinnerungen Jahrzehnte später hergestellt werden und die historische Dokumentation anreichern, desto mehr werden sie die emotionslosen Schwarz-Weiß-Fotografien irgendwie banal, vorhersehbar und mechanistisch wirken lassen. In einer Zeit, in der Selfies die eigenen Erfahrungen vermarkten und feiern und dabei das Selbstporträt verdrängen, das einmal introspektiv versuchte, das eigene Ich zu erforschen – sollte man in so einer Zeit eher Augenzeugen oder einer Kamera Glauben schenken?

«Da die Schaffung eines jeden Bildes nun nicht mehr verlangt als eine Texteingabe, könnten feindlichen Übernahmen aller möglicher Historien allzu gang und gäbe werden und der Bilderkrieg dabei immer tiefer in die Geschichte einzugreifen drohen.» – Fred Ritchin

Was Farbe bewirkt

Auf ähnliche Weise ließ das Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum vor Kurzem einen brasilianischen Spezialisten Fotografien von Gefangenen des Konzentrationslagers nachträglich kolorieren, motiviert von dem Glauben, dass die historischen Dokumente die Besucherinnen und Besucher nicht ausreichend packen würden.

Um die Webseite facesofauschwitz.com zu zitieren: «Indem man Farbe in die original Schwarz-Weiß-Registrierungsfotografien bringt und die Geschichten der Gefangenen erzählt, gedenkt ‚Faces of Auschwitz‘ denen, die im Namen von Engstirnigkeit und Hass ermordet wurden. Es agiert sowohl als Erinnerungspunkt ihres Todes, als auch als Warnung an die Welt zu einem Zeitpunkt, an dem die Erinnerung an den Holocaust zunehmend abstrakt wird und weit entfernt scheint.»

Vergleichbar ist auch die Arbeit eines irischen Künstlers, der Porträts von Kambodschanern vor ihrer Folter und ihrem Mord durch die Roten Khmer kolorierte. In einigen Fällen brachte er sie dazu, dass sie zu lächeln scheinen. Vice Media, die die bearbeitete Fotografie veröffentlichten, schrieben, dass die Kolorierung die Absicht hatte, «die Tragik menschlicher zu machen».

Die New York Times hingegen zitiert die Überlebende Theary Seng, die ein Buch über ihre Kindheitserfahrungen geschrieben hat, mit den Worten: «Die Farben bereichern die Gesichter nicht um Menschlichkeit. Ihre Menschlichkeit ist schon längst durch ihre eindringlichen Augen, ihre apathische Resignation und ihre trotzigen Blicke eingefangen und zum Ausdruck gebracht.» Die Unmenschlichkeit habe darin bestanden, dass der Künstler «die Menschen aus unerklärlichen Gründen geschminkt und ihnen ein Lächeln aufgesetzt habe, fast so, als würde er ihr Leid ins Lächerliche ziehen.»

Feindliche Übernahmen

Was hindert darüber hinaus dann noch Nazis und ihre Sympathisanten oder Mitglieder der Roten Khmer, ihre eigenen synthetischen Bilder zu produzieren, die sich auf ihre eigenen Erinnerungen beziehen oder darauf, wie sie selbst die Vergangenheit gern betrachten möchten? Könnte es eine revisionistische Geschichte wohlwollender Gefängniswärter geben, die mit den Insassen Karten und Fußball spielen und mit ihnen Eis essen?

Da die Schaffung eines jeden Bildes nun nicht mehr verlangt als eine Texteingabe, könnten solche feindlichen Übernahmen aller möglicher Historien allzu gang und gäbe werden und der Bilderkrieg dabei immer tiefer in die Geschichte einzugreifen drohen.

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Diesen Plantagenbesitzer hat es nie gegeben: Auch in diesem Fall ließ Fred Ritchin ein Bild mittels eines KI-Programmes erstellen. In die Texteingabe schrieb er, das Programm solle ein «Foto» eines lächelnden weißen Plantagenbesitzers in Mississippi im Jahr 1855 erzeugen. Nun weckt es den Anschein einer historischen Aufzeichnung, die in Wirklichkeit nie existiert hat.

Von Bildern, die «KI-washed» sind

Nachdem ich mir die Bilder von Ashkelon angesehen hatte, wollte ich mit einem Experiment eine Diskussion anstoßen: Ich zauberte per Texteingabe ein Lächeln in die Gesichter von Plantagenbesitzern aus dem Jahr 1855 in Mississippi und zeigte die KI-generierten Bilder bei einer öffentlichen Vorlesung, wo sie als verblüffend realistisch wahrgenommen wurden.

Natürlich erlaubte es die Fotografie des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer langen Belichtungszeiten den Menschen nicht, auf Bildern zu lächeln. Indem ich sie lächeln ließ, gelang es mir, diese Menschen, die es ja gar nicht gegeben hat, entspannter und menschlicher wirken zu lassen.

Die weitaus größere Sünde ist es jedoch, dass diese computergenerierte Fassade in der Lage ist, die niederträchtige Geschichte der Sklaverei in den USA zu vertuschen und zu verzerren. Sollten diese Bilder ins Internet gestellt werden, könnten neuere KI-Generationen auf Grundlage dieser Verfälschungen lernen und damit eine Kluft zwischen kommenden Generationen und den grauenhaften Tatsachen der Sklaverei in den USA schaffen. Das unfassbare Leid von Menschen auf der ganzen Welt könnte auf diese Weise, um einen unschönen Begriff zu prägen, KI-washed werden.

Mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Beklemmung klickte ich als Nächstes auf einen Link zu einem Onlineprojekt der Anwaltskanzlei Maurice Blackburn Lawyers, das nach der Einstellung einer Pro-Bono-Sammelklage veröffentlicht wurde. Hier wird (in Text und Bild) die Misshandlung von Geflüchteten in australischen Offshore-Immigrationsabwicklungszentren dargestellt.

Alle Bilder sind komplett synthetisch und basieren auf mehr als 300 Stunden an Interviews, die mit ehemals Inhaftierten geführt wurden. Dazu informiert man das Publikum, dass – aufgrund der verschwindend geringen Beweislage durch eine Beschränkung von journalistischer Berichterstattung und Einsatz von Fotoequipment – «die Bilder in diesem Projekt unter Zuhilfenahme von KI-Technologie entstanden sind. Sie sind nicht echt – die Erfahrungen, die sie darstellen, hingegen schon.»

Das Projekt wurde im Immigration Museum in Melbourne gezeigt, als Buch veröffentlicht, und auch als «Exhibit A-i, The Refugee Account» online präsentiert – hier mit einer Triggerwarnung: «Die folgenden Seiten zeigen detailliert körperliche Übergriffe, verbale Beschimpfungen, Nötigung, Rassismus, Homophobie, religiöse Diskriminierung, rechtswidrige Inhaftierung, Vergewaltigung, Mord, Pädophilie, Selbstverletzung, Selbstverbrennung und Selbstmord. Betrachtende empfinden diese Darstellungen ggf. als beunruhigend.»

In einem kurzen Begleitfilm ist die Bildsprache lebhaft, fotorealistisch, tief verstörend und düster: Man sieht das eingeschlagene Gesicht eines Mannes, die Überreste eines weiteren Mannes, der sich selbst zu Tode verbrannt haben soll, einen Angriff eines Gefängniswärters, eine Szene nach einer Vergewaltigung, ein blutiges Waschbecken, vor dem eine Mutter davon erzählt, wie ihr Säugling einen Selbstmord miterleben musste, Polizei, die in Kampfmontur das Lager patrouilliert und noch weitere Situationen.

Anonyme Ermächtigung

Die Selbstdarstellung, die hier gefördert wird, erlaubt es jenen, denen großes Unrecht angetan wurde, zweifelsohne, sich der Opferrolle wieder zu entziehen, und durch die synthetischen Bilder kann dies anonym geschehen. Anstatt sich auf die Ergebnisse eines kurzen Besuchs einer Fotografin oder eines Fotografen zu verlassen, der nicht wiedergeben kann, was zuvor vor sich gegangen ist, kann auf diese Weise jede Insassin oder jeder Insasse hinzugezogen werden und können ihre Erfahrungen so dargestellt werden, wie sie es für richtig halten.

Die Personalisierung der Bilder ermöglicht zudem eine tiefergreifende Darstellung davon, wie die Misshandlung von Einzelnen wahrgenommen wurde. Oder es wird – in Rückkehr zu der irgendwie paradoxen Differenzierung der Organisatorinnen und Organisatoren, dass die Bilder «nicht echt [seien] – die Erfahrungen, die sie darstellen, hingegen schon» – der Fokus auf Zweiteres noch einmal bestätigt. Man fragt sich jedoch, ob aus Zeugenaussagen der Opfer kreierte synthetische Bilder nicht in Zukunft dennoch bevorzugt werden, selbst wenn in ähnlichen Situationen Kameras vor Ort sein sollten.

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Künstlich durch und durch:  Auch dieses Bild ist kein echtes Foto. Das KI-Computerprogramm DreamStudio spuckte es aus, nachdem Fred Ritchin «ein Foto von glücklichen Hausfrauen in den 1950er Jahren» in die Texteingabe geschrieben hatte.

Wie dominant ist ein fotografisches Bild noch?

Die Aussagen, die dem Film vorangestellt sind, lassen an die dominante Rolle von fotografischem und filmischem Bild im vergangenen Jahrhundert denken: «Die eindringlichsten Beweise der Geschichte sind visuell.» Oder: «Das richtige Bild weiß nicht nur, Ungerechtigkeit zu entlarven – es kann ihr auch einen Riegel vorschieben.» Oder: «Nur indem wir Ungerechtigkeit sichtbar machen, können wir Veränderungen schaffen.»

Diese Mantras auf kameralose Bilder auf Grundlage einzelner Zeugenaussagen zu übertragen, ist zu diesem Zeitpunkt noch Wunschdenken. Ein Artikel, der das Projekt beschreibt, behauptet auch, dass die KI-generierten Bilder auf einer redaktionellen Website veröffentlicht wurden, um dort «Seite an Seite mit Fotojournalismus zu stehen» – ein erster Schritt hin zu dessen Destabilisierung.

Synthetische Bildsprache ist in einer Ära des Postfaktischem und der Fake News entstanden, in der das Tatsächliche zunehmend irrelevant ist und in der wenige Hierarchien bestehen bleiben, die weiterhin weiten Teilen der Gesellschaft glaubwürdig erscheinen. Von denen, die die Welt »in ihrem eigenen Bild« sehen wollen, wird Fotografie als zu beschränkt betrachtet werden; daher auch der Titel meines Buches («In Our Own Image») von 1990.

«Synthetische Bildsprache ist in einer Ära des Postfaktischem und der Fake News entstanden, in der das Tatsächliche zunehmend irrelevant ist und in der wenige Hierarchien bestehen bleiben, die weiterhin weiten Teilen der Gesellschaft glaubwürdig erscheinen.» – Fred Ritchin

Warum es Richtlinien braucht, um historische Wahrheiten aufrecht zu erhalten

Kurzfristig werden Bilder, die sich auf die ehemalige Autorität der Fotografie berufen, zu einer Art Quasi-Beweis gemacht werden, nach jahrzehntelanger Fotomanipulation mithilfe von Software. In einer verbraucherkapitalistischen Ära, in der Kundinnen und Kunden immer recht haben, wird die visuelle Dokumentation zu einem Hindernis. In einer von Bildern durchzogenen Gesellschaft kann jeder nach Belieben alles haben; jede Identität, Familie, Freunde und Geschichte – oder zumindest so tun.

Dass es Richtlinien bedarf, um ein glaubwürdiges Gespür von kontemporären und historischen Wahrheiten aufrechtzuerhalten, liegt auf der Hand und die Dringlichkeit dessen umso mehr. Es braucht Urheberschaft, moralische Kodexe, Grundsatzformulierungen, Medienkundigkeit und Kennzeichnungen, die verschiedene Arten von ähnlich aussehenden Bildern unterscheiden helfen.

Es braucht ebenfalls ernsthafte Konsequenzen, legal und anderweitig, für diejenigen, die absichtlich mithilfe einer breiten Menge an Werkzeugen, die ihnen nun zu Verfügung stehen, andere in die Irre führen und zu Opfern machen. Dazu gehören auch jene, die von künstlicher Intelligenz generiert wurden.

Sonst sind wir auf dem besten Weg von der Binsenweisheit, dass die Kamera niemals lügt, zu einem Grundverständnis, dass fast alles Lüge ist. In einem solchen Fall müsste man sich fragen, ob mein ukrainischer Fotografenfreund, der vor Bomben und Kugeln in Deckung geht, besser hätte zu Hause bleiben sollen. Und ob der Krieg in seinem Land, wie der Baum, der ungehört und ungesehen im Wald fällt, irgendeinen Laut von sich gegeben hätte.

 

Wir danken «Commonplace», in dem dieser Essay im Juni 2023 im englischen Original erschienen ist.

Fred Ritchin

Fred Ritchin ist emeritierter Dekan der Schule am International Center of Photography, ehemaliger Bildredakteur des New York Times Magazine und emeritierter Professor für Fotografie und Bildgebung an der Tisch School of the Arts der New York University (NYU). An der NYU unterrichtete er auch im Rahmen des «Interactive Telecommunications Program» und war Mitbegründer des «Photography and Human Rights Program». 1994 und 1995 erstellte er die erste Multimedia-Version der New York Times und konzipierte und bearbeitete 1996 den Online-Dokumentarfilm «Bosnia: Uncertain Paths to Peace», der von Gilles Peress fotografiert und für einen Pulitzer-Preis für Öffentlichkeitsarbeit nominiert wurde. Ritchin hat drei Bücher über die Zukunft der Bildgebung geschrieben, darunter «In Our Own Image: The Coming Revolution in Photography» (1990), «After Photography» (2008) und «Bending the Frame: Photojournalism, Documentary, and the Citizen» (2013). Derzeit schreibt er an «The Synthetic Eye», das 2024 bei Thames & Hudson erscheint.

Patrick Ploschnitzki

Dr. phil. Patrick Ploschnitzki ist Assistant Teaching Professor für deutsche Sprache und Kultur an der University of Kansas. In seiner Forschung untersucht er soziokulturelle Diskurse im Kontext von Synchronisation, sowie das sogenannte «Synchrondeutsch» im Zusammenhang mit US-amerikanischem Fernsehen. Weitere Forschungsinteressen sind der Einsatz von Online-Übersetzungswerkzeugen im Fremdsprachenunterricht sowie die Verbindungen zwischen populären Medien und literarischen Traditionen, wie etwa neu definierte Heimatbilder in zeitgenössischen Punk- und Rap-Texten.

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