«Wir haben das Denken mit Texten gelernt, nicht mit Bildern»

Gerhard Paul im Gespräch mit Daniel Di Falco  — 25.11.2022*

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«Der Kameramann am linken Bildrand verrät, dass die Aktion mit dem Schlagbaum inszeniert wurde.» Deutsche Soldaten und Polizisten während des Überfalls auf Polen, vermutlich fotografiert von Hans Sönnke, 1. September 1939. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo

«Ich habe die Bilder in meinem Kopf zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht.»

Warum verwechseln Kriegsveteranen ihre Erinnerungen mit Szenen aus Filmen? Wie verdrehen falsch beschriftete Bilder unser Geschichtsbewusstsein? Und weshalb sorgen die Medien heute für einen «späten Triumph der NS-Propaganda»? Der Historiker Gerhard Paul über die Macht der Bilder und die Ohnmacht der Betrachter.

Was tun Historiker? Sie schreiben Texte. Dazu lesen sie Texte. Dass sie auch Bilder lesen könnten, als historische Quellen, als Dokumente der Vergangenheit, statt mit ihnen nur ihre Bücher zu verschönern – das ist ihnen erst in den letzten zwei, vielleicht drei Jahrzehnten aufgegangen. Eine treibende Kraft dieser Entwicklung im deutschsprachigen Raum war Gerhard Paul, Professor in Flensburg. Als die Fernseher noch warm waren von den Livebildern aus den Kriegen im Kosovo und in Serbien, Kuwait und dem Irak, vom Terror in New York und vom «Krieg gegen den Terror» in Afghanistan, war Paul mit einem entscheidenden Buch zur Stelle: der ersten umfassenden Erklärung, wie aus Bildern Waffen wurden und aus Kriegen Bilderkriege («Bilder des Krieges – Krieg der Bilder», 2004). Mit seiner «Visual History» hat er seither nicht nur das Fach vorangebracht, sondern auch das öffentliche Bewusstsein für die Tücken von historischen Bildern: weil er sich dafür interessiert, wie Bilder das Geschichtsbewusstsein prägen. Und wie falsch verstandene Bilder es verdrehen.


Daniel Di Falco: Wir leben in einer Bilderflut, in einem «visuellen Zeitalter», wie eines Ihrer Bücher heißt. Zugleich sagen Sie, wir verstünden die Bilder nicht. Wie kommen Sie darauf?

Gerhard Paul: Je mehr wir von Bildern umgeben sind, umso schwerer fällt es, reflektiert mit ihnen umzugehen. Ich habe das tausendfach erlebt, auch an meiner Uni, wo wir Geschichtslehrer ausgebildet haben. Die Betrachter haben oft außerordentlich große Mühe, zu beschreiben, was ein Bild überhaupt zeigt. Gerade bei Bildern, die man längst zu kennen glaubt, übersieht man Entscheidendes.

Was übersieht man?

Ein Beispiel. Vor einiger Zeit gab es in der «Welt» einen Artikel zum deutschen Überfall auf Polen im September 1939, und die Redaktion illustrierte ihn mit einer bekannten Fotografie: ein polnischer Grenzposten, ein Dutzend Wehrmachtssoldaten, die den Schlagbaum wegreißen. Allerdings sieht man am linken Bildrand noch etwas, und zwar einen Kameramann in Uniform – den Filmberichterstatter einer deutschen Propagandakompanie. Den Redakteuren, die das Sujet so oft verwendet haben, ist das gar nicht aufgefallen.

Was bedeutet dieses Detail?

Es bedeutet, dass die Aktion mit dem Schlagbaum für die Medien inszeniert wurde, und dabei geriet der Filmer aus Versehen ins Bild. Aber bei der «Welt» hat das keiner gesehen, man verstand das Bild als authentisches Dokument des Kriegsgeschehens. Gerade bei historischen Ereignissen haben wir es oft mit Inszenierungen zu tun. Nur ist das selten so offensichtlich wie bei diesem Bild.

Es ist berühmt geworden.

Auch mich begleitet es seit meiner Schulzeit.

«In jedes Bild ist eine Deutung eingeschrieben. Wenn Bilder unreflektiert gezeigt werden, dann transportieren sie diese Deutungen bis in die Gegenwart.» – Gerhard Paul

Und woher haben Bilder die Macht, Generationen von Betrachtern zu täuschen?

Bei der Wirkung von Bildern kommt es immer auf den zeitlichen und kulturellen Kontext an. Es gibt Bilder aus dem 19. Jahrhundert, die uns heute nichts mehr sagen. Es kommt aber ebenso sehr auf die Bildsprache an. Es ist ein Unterschied, ob mich ein Kind mit Kulleraugen aus einem Bild anschaut oder ob ich das Kind von hinten sehe. So gelingt es manchen Bildern besser als anderen, Emotionen oder Dramatisierungen zu vermitteln. Und etwas Wesentliches kommt noch dazu: Die Fotografie verkörpert scheinbar Wissenschaftlichkeit. Seit ihren frühesten Tagen im 19. Jahrhundert galt sie als exakter, unmittelbarer Ausdruck der Realität. Das erste Buch zur Fotografie, das 1846 erschien, hieß bezeichnenderweise «The Pencil of Nature», also «Der Zeichenstift der Natur».

Das sollte heißen: Der Lichteindruck brennt sich mit den Gesetzen der Natur in dieses Medium ein.

Diese Gesetze lassen sich schwer bestreiten. Aber Fotos sind keine Naturerscheinungen – man kann die gleiche Sache auf tausend verschiedene Arten fotografieren. Trotzdem trauen wir Fotografien ein besonderes Maß von Wahrheit zu. Auch der Film und das Fernsehen profitierten später von dieser Aura der Objektivität.

Wenn Sie von Bildern sprechen, meinen Sie also jene, die in ihrem technischen Kern fotografisch sind: Foto, Kino, TV, Video.

Genau.

Und was war vor der Fotografie? Es gab ja schon vorher die Idee, dass Bilder mächtiger seien als tausend Worte, es gab diese Angst vor ihrer suggestiven Kraft.

Diese Haltung ist ein Ergebnis der Aufklärung. Seit der Aufklärung hat das Konzept, die Wirklichkeit mit Texten, mit Begriffen zu durchdringen, einen erhöhten gesellschaftlichen Wert. In der Schule haben wir das Denken mit Texten gelernt, nicht mit Bildern, und das ist auch der Grund dafür, dass sich bis vor kurzem die Historiker kaum mit Bildern beschäftigt haben. Die Kraft unserer Wissenschaft war das Wort, unsere Quellen waren Akten, Briefe, Bücher. Das nennt man Logozentrismus, und er ist ein Problem. Man hat das Bild gefürchtet, auch daher hat es seine Macht.

Sind wir wirklich so unaufgeklärt? Photoshop ist heute längst zum volkstümlichen Synonym für Bildmanipulationen geworden.

Als ich mit der Bildforschung angefangen habe, war ich Pessimist, aber ich bin deutlich optimistischer geworden. Das Image der Authentizität haben sich die Bilder zwar bis in die digitale Ära erhalten, aber es löst sich allmählich auf. Das Internet und die Online-Archive haben Bilder in einem Maß zugänglich gemacht, das historisch einmalig ist. Auch Laien können heute verfolgen, wie Bilder entstehen, wie sie verwendet und manipuliert werden. Zudem kann jedermann Bilder auch selber so einfach produzieren und verändern, wie es das bisher nicht gab. All das führt dazu, dass nicht mehr derselbe Glaube an die Bilder herrscht wie noch vor einer Generation.

Es gibt diese wahre Geschichte von Ronald Reagan. In seinen Erinnerungen an seinen Dienst in der Air Force berichtete der US-Präsident von dramatischen Erlebnissen. Doch die stammten in Wahrheit aus Spielfilmen über den Zweiten Weltkrieg.

Ja, das ist ja kein Einzelfall. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat sich mit deutschen Kriegsveteranen beschäftigt und ein lesenswertes Buch über ihre Erlebnisse herausgegeben, «Opa war kein Nazi». Welzer befragt diese Veteranen, und es passiert dasselbe wie bei Reagan: Sie erinnern sich nicht an ihre eigenen Kriegserfahrungen, sondern schildern diese Erfahrungen in Szenen aus Kriegsfilmen der 1950er Jahre. Und das ist ihnen nicht bewusst.

Wie kann es dazu kommen?

Filmbilder sind manchmal so mächtig, dass sie sich über reale Erfahrungen legen. Sie machen den Leuten ein Erinnerungsangebot. Wo man sich nicht präzise erinnern kann, da kommt die Vergegenständlichung durch Bilder zustande, die man vor sich hat.

So wie ich mich an Dinge aus meiner Kindheit erinnere, die ich nur aus dem Fotoalbum kenne?

Genau. Bilder animieren mich, mich in meine Erinnerungen zu vertiefen. Und sie geben mir eine Sprache, mit der ich meine Erfahrungen fassen und ausdrücken kann.

Wenn sich schon Zeitzeugen von Bildern täuschen lassen: Was bedeuten dann Bilder für eine Gesellschaft, die sich eine Vorstellung von der Vergangenheit machen will?

Zunächst einmal erinnern sich Gesellschaften, jedenfalls unsere Gesellschaften, ganz stark mit Bildern überhaupt an Geschichte, das passiert mit Fernsehsendungen wie mit Ausstellungen. Allerdings ist in jedes Bild eine Deutung eingeschrieben, eine Deutung der Realität, die der Produzent des Bilds vorgenommen hat. Wenn diese Bilder unreflektiert gezeigt werden, dann transportieren sie diese Deutungen bis in die Gegenwart. Sie schleichen sich ins Geschichtsbewusstsein und prägen die kollektive Erinnerung.

 

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«Moderne Combat-Fotografie, die den Betrachter zum Mitkämpfer machen sollte.» Deutscher Vormarsch in Serbien, aufgenommen von Arthur Grimm für die NS-Illustrierte «Signal», Doppelseite 2. Jg., Heft 12, 1941. Foto: akg-images

«Bilder können kriegskritische Bewegungen mobilisieren. Aber sie können Kriege nicht beenden, das tun immer die Militärs.»

In einer Fallstudie in Ihrem Buch «Bilder einer Diktatur» analysieren Sie eine Fotoreportage aus der NS-Illustrierten «Signal». Sie zeigt deutsche Panzer beim Vorstoß durch ein serbisches Dorf 1941. Ich habe dieses Motiv in drei neueren «Spiegel»-Themenheften gefunden. Von «Signal» ist dort nirgends die Rede.

Das ist das Problem. Die Redaktionen beziehen das Material bei Bildagenturen und präsentieren es als Journalismus. Das Bild aus Serbien ist moderne Combat-Fotografie eines eingebetteten, parteiischen Reporters, man blickt über die Schulter einer Panzerbesatzung aus erhöhter Warte nach vorn, das vermittelt ein Gefühl der Überlegenheit. Vor allem aber zieht einen diese Bildregie in die Szene hinein, als wäre man selber beim Vorstoß dabei. Das ist für den «Spiegel» natürlich attraktiv. Aber «Signal» ging es auch darum, den Betrachter zum Mitkämpfer zu machen und die Kluft zwischen Front und Heimat zu schließen. Diese Kluft war im Ersten Weltkrieg zum politischen Problem geworden. Medien wie «Signal» sollten das nun verhindern.

Im Buch nennen Sie die unbedachte Verwendung solcher Bilder einen «späten Triumph der NS-Propaganda». Was lässt sich dagegen tun?

Man muss im Mindesten erklären, von wem die Bilder stammen, mit welcher Absicht sie gemacht wurden. Aber das findet auch in historischen Ausstellungen in aller Regel nicht statt. Und im Fernsehen noch weniger. Gestern sah ich auf Arte eine Sendung über Berlin in der Endphase des Kriegs 1945. Mit erstmals gezeigtem Filmmaterial aus jener Zeit, laut Ansage. Das stimmte vielleicht für zehn Prozent des Materials – den Rest des Beitrags hat man mit Bildern aus der «Deutschen Wochenschau» aufgefüllt, die damals in den Kinos gezeigt wurde. Man hat also, ohne sie zu deklarieren, Nazipropaganda verwendet, um von der Flucht der ostpreußischen Bevölkerung vor der Roten Armee zu erzählen. Und das im Jahr 2020! 

Was macht das mit dem Betrachter?

Diese Flucht war ein Drama, ein absolutes Chaos, doch in der «Wochenschau» sehen Sie einen geordneten, disziplinierten Zug von Flüchtlingen von Osten nach Westen, durch das Bild hindurch. Die Leute lachen, sie sind gut genährt, sie haben sogar Schutz vor Fliegerangriffen. So erfahren Sie nichts über die Realität dieser Flucht. Stattdessen lässt man die Bilder suggerieren, die Nazis hätten alles im Griff gehabt. Das Gegenteil war der Fall, und das war ja auch der Grund, warum die Nazis solche Szenen für die «Wochenschau» arrangierten. Diese Filme sind als historische Quelle nichts wert, außer man analysiert die Strategien der Propaganda. Noch bis vor kurzem haben auch unsere Militärhistoriker solches Material auf wissenschaftlichen Tagungen so präsentiert, als wäre es ein Abbild der Realität.

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«Die Flucht vor der Roten Armee war ein absolutes Chaos, doch diese Bilder suggerieren, die Nazis hätten alles im Griff gehabt.» Standbild aus der «Deutschen Wochenschau», Nr. 754 vom 16. März 1945. Die Szene zeigt einen Flüchtlingstreck auf dem zugefrorenen Haff in Ostpreußen und stammt vermutlich aus der zweiten Hälfte im Februar 1945. Bild: Bildschirmfoto von Gerhard Paul

Wie würden Sie es machen? Sie haben selber TV-Dokumentationen realisiert.

Manchmal blendet man einen Untertitel ein: «Propagandafilm». Aber das ist nicht genug. Vor einigen Jahren habe ich einen Fernsehsender beraten, für einen Film über die Gestapo. Man wollte Kriegsszenen aus der «Wochenschau» verwenden und diesen Bilderteppich mit Text unterlegen. Aber so lässt sich die Kraft dieses Materials nicht brechen: Die «Wochenschau» zeigt den Krieg als mitreißendes Geschehen, doch in Wahrheit geschah im Feld oft nichts, es herrschten Stillstand und Langeweile. Am Ende haben wir die «Wochenschau»-Bilder in einem Kino abgespielt, auf einer Leinwand vor leeren Zuschauerreihen, und sie so aufgenommen.

Um die Bilder zu verfremden?

Wir wollten den Kontext sichtbar machen, dem sie entstammen, nämlich den des Kinos. Zudem haben wir den Ton immer wieder verlangsamt und den Fluss der Bilder zerschnitten, um ihre Dynamik zu brechen. Es gibt auch andere Techniken, aber entscheidend ist, dass man Bilder nicht als Abbilder der Realität präsentiert und dass man sie in eine Distanz zum Betrachter rückt, damit er sie richtig wahrnehmen kann, als Produkt bestimmter Absichten und Träger bestimmter Botschaften. Aus meiner Zeit beim Fernsehen weiß ich, dass jede Sekunde Film eine bewusste Entscheidung ist, die am Schneidetisch – damals waren das noch Schneidetische – gefällt wird.

Wir reden jetzt von Bildern, die den Krieg beschönigen und rechtfertigen. Aber gehört es nicht auch zur Macht der Bilder, ihn zu verhindern? Nach dem Ersten Weltkrieg benutzten die Pazifisten Fotografien von den Schrecken des Kriegs. Genau wie die Kritiker des Vietnamkriegs in den USA, die am Ende sogar erfolgreich waren.

Ich denke, das ist ein Mythos. Bilder können Kriege nicht beenden, das tun immer die Militärs. Wobei die US-Regierung ja nicht unschuldig an diesem Mythos war: Sie begründete den Rückzug aus Vietnam damit, dass die schlimmen Medienbilder von Kindern im Krieg die Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung untergraben hätten. Aber damit kaschierte die Regierung bloß, dass selbst eine Supermacht wie die USA dieses kleine Land nicht besiegen konnte.

Dann hatten diese Bilder keinen Einfluss?

Doch, das schon. Bilder können kriegskritische Bewegungen mobilisieren und stärken. Aber entscheidend für den Rückzugsentscheid von 1975 war die militärische Situation. In Washington zog man gleichwohl eine Lehre aus dem Fall: Man machte Schluss mit dem freien Zugang zu den Kriegsschauplätzen, die Reporter mussten ganze Bücher voller Vorschriften unterschreiben und wurden einer militärischen Einheit zugeteilt. Die Folge war, dass die Kriege nach Vietnam praktisch bilderlos blieben. Das änderte sich erst wieder mit den Kriegen in der Golfregion in den 1990er Jahren. Dennoch blieb Vietnam einer der wenigen Kriege der Moderne, über die verhältnismäßig frei berichtet werden konnte.

Konnte so auch jenes Bild entstehen, das zur Ikone wurde – das vietnamesische Mädchen, das nackt und schreiend auf einer Straße aus einem brennenden Dorf rennt, zusammen mit anderen Kindern?

Ja. Auch für mich persönlich ist das Foto von Nick Ut ein besonderes Bild. Es war eines von jenen, die mich damals zur pazifistischen Bewegung brachten, weil es vermeintlich die ganze Brutalität der amerikanischen Kriegsführung zeigte. Erst viel später ist mir aufgefallen, dass es gerade das nicht zeigt: Es war die südvietnamesische Armee, die die eigenen Leute mit Napalm bombardierte, weil sie in diesem Dorf Gegner vermutete, die dort nicht waren. Wie wenig man sich auf diese Tatsache einlassen wollte, wurde mir klar, als ich zu einem Jubiläum der «taz» in Berlin geladen wurde, um über die Hintergründe dieses Fotos zu referieren. Der grüne Politiker Daniel Cohn-Bendit war auch da, und er lief wegen meines Vortrags aus dem Saal.

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Das Mädchen Kim Phúc und andere Kinder auf der Flucht aus Trảng Bàng, fotografiert von Nick Út, 8. Juni 1972. Foto: Nick Út/AP Photo/Picture Alliance

«Erst viel später ist mir aufgefallen, dass das Bild gar nicht die Brutalität der US-Kriegsführung zeigt: Es war die südvietnamesische Armee, die die eigenen Leute mit Napalm bombardierte.» – Gerhard Paul

Heißt das: Die symbolische Wirkung von Fotos ist umso grösser, je eher man vergisst, was sie genau zeigen?

Ja, so können sie zu Ikonen werden. Ikonen sind ja ursprünglich religiöse Bilder. Das sind Bilder, an die man glaubt. Man befragt sie nicht.

Und als Historiker, als Vertreter der «Visual History» machen Sie genau das: Sie befragen Bilder?

Zum Teil. Von den Kunsthistorikern haben wir gelernt, Bilder in einem ersten Schritt genau anzusehen, ihre Elemente zu erkennen und ihre visuelle Logik zu analysieren. Dann kommt hinzu, was die Historiker besser können: die gesellschaftlichen Bedingungen zu erfassen, unter denen ein Bild entstanden und verstanden worden ist.

Und was versteht ein Bildhistoriker besser als ein Texthistoriker?

Wesentliche Teile des 20. Jahrhunderts. Was Deutschland angeht, hat die Ära der Mediengesellschaft schon im Kaiserreich angefangen. Regierungen haben Propagandainstitutionen geschaffen, um Gefolgschaft zu erzeugen. Die größte dieser Institutionen war das Ministerium von Joseph Goebbels, und wer besser verstehen will, warum die Deutschen dem NS-Regime in die Katastrophe folgten, der kommt nicht um die Bilder herum, die in solchen Einrichtungen produziert wurden.

Und wie sind Sie selber als Historiker auf die Bilder gekommen?

Eigentlich waren die Bilder zuerst, ihretwegen wurde ich Historiker. Nach dem Studium war ich zehn Jahre für das Fernsehen tätig, und weil ich die Bilderwelten besser begreifen wollte, mit denen ich es zu tun hatte, ging ich zurück an die Uni.

Sie wurden dann Spezialist für die Bilder von Kriegen, Konflikten und Krisen.

Auch das kam gewissermassen aus der Praxis. Ende der 1990er Jahre ging es um den ersten Waffengang einer deutschen Regierung seit 1945, die Bundesrepublik sollte an der Seite der Nato auf dem Balkan eingreifen, und um das zu rechtfertigen, präsentierte der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping der Öffentlichkeit Bilder eines vermeintlichen Massakers an Zivilisten in Rugova in Kosovo. Die stammten zwar nicht, wie Scharping suggerierte, vom Tatort in Rugova. Und sie zeigten auch nicht Zivilisten, sondern Militärangehörige, wie man später merkte. Aber sie taten ihre Propagandawirkung: Deutschland brauche diesen Krieg, hieß es, um ein zweites Auschwitz zu verhindern. Damals habe ich mich gefragt: Welche Bilder vom Krieg trägt meine Generation mit sich herum, woher kommen sie, wie funktionieren sie? Es ist nicht die gängige akademische Art, aber ich habe immer dort geforscht, wo ich mir selber über etwas klar werden wollte. Eigentlich habe ich zwanzig Jahre lang die Bilder in meinem Kopf zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht.
 
Sie wohnen und arbeiten im nördlichsten Norden Deutschlands, in Flensburg. Das war die Stadt, von der aus im Mai 1945 für kurze Zeit das letzte Staatsoberhaupt des «Dritten Reichs» regierte: Großadmiral Karl Dönitz, von Hitler zu seinem Nachfolger bestimmt. Was macht die Stadt mit dieser Geschichte heute, nach 75 Jahren?

Nicht sehr viel. Anders als vor fünf Jahren gab es keine Feierlichkeiten zum Jahrestag der Verhaftung der Regierung Dönitz. Dabei sind die deutschen Vertreter von hier aus zur Kapitulation nach Reims und Berlin gefahren. In Flensburg wurde das Kriegsende übers Radio verkündet, denn hier stand der letzte funktionierende Sender der Diktatur. Und in Flensburg ging diese Diktatur dann auch zu Ende. Man übersieht das ja oft: Das Ende des Kriegs war noch nicht das Ende des «Dritten Reichs». Das kam erst zwei Wochen später. 

Was geschah in diesen zwei Wochen?

Die Regierung Dönitz amtierte vom 8. bis zum 23. Mai 1945, und sie beschäftigte sich vor allem mit symbolischen Dingen wie Staatsbegräbnissen oder dem Hissen der verbotenen Reichskriegsflagge in der eroberten Stadt. Schließlich verhafteten die Briten Dönitz und seine Kabinettskollegen und beendeten das gespenstische Schauspiel. Viele deutsche Soldaten hatten ja geglaubt, mit dem Kriegsende sei ihre Dienstpflicht erloschen. Sie warfen also ihre Waffen weg und gingen heim, doch bei vielen stand dann die Feldpolizei vor der Tür, um sie zu verhaften. Manche wurden noch nach dem 8. Mai wegen Fahnenflucht hingerichtet. Derweil legten in Flensburg massenweise SS- und Parteifunktionäre ihre Uniform ab und wechselten ihre Identität, um in der Nachkriegszeit Karriere zu machen. Das ist wenig bekannt, auch in Flensburg.

Es gehört heute zum Krieg, dass sich die Sieger mit Bildern der Besiegten krönen. Wie war das in Deutschland im Mai 1945?

Es gibt Bilder von der Verhaftung der Regierung Dönitz, aber sie haben sich nie richtig in die Erinnerung eingeprägt. Die Alliierten luden die Presse in den Hof des Flensburger Polizeipräsidiums, dort standen dann Karl Dönitz, Rüstungsminister Albert Speer und Generaloberst Alfred Jodl vor den Kameras, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und etwas zerknirscht, aber nicht wie Verbrecher, sondern wie reguläre Vertreter eines Staats. Dönitz hatte sich für den Termin sogar extra eine neue Uniform machen lassen.

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«Das schlagende Bild vom Sieg über Deutschland gibt es nicht.» Pressetermin anlässlich der Festnahme der letzten Regierung des «Dritten Reichs» mit Albert Speer, Karl Dönitz und Alfred Jodl, Flensburg, 23. Mai 1945. Foto: Picture Alliance/DPA

«Wenn ich mich mit jedem Opfer identifizieren würde, könnte ich nachts nicht mehr schlafen.»

Taugt so eine Szene als Trophäe?

Vermutlich wollten die Alliierten der Weltöffentlichkeit den festgenommenen Diktator präsentieren oder wenigstens jemanden aus der zweiten Reihe. Aber dieser Situation hatten sich die führenden Repräsentanten des Nationalsozialismus schon durch Selbstmord entzogen, in der Reichskanzlei in Berlin. Zur ikonischen Szene des alliierten Siegs wurde dann das Bild mit der roten Fahne auf dem Reichstag. Und das mit den amerikanischen und den sowjetischen Soldaten, die sich an der Elbe die Hand geben, auch das übrigens eine nachträgliche Inszenierung für die Fotografen. Doch das sind schwache Bilder, wenn Sie sie mit der Festnahme Saddam Husseins in seinem Erdloch vergleichen. Das schlagende Bild vom Sieg über das nationalsozialistische Deutschland gibt es tatsächlich nicht.

Dann ist die Strategie der Täter aufgegangen?

Nein, so würde ich es nicht sagen. Sicher, die NS-Elite hat nach 1945 zumindest versucht, spurlos abzutauchen. Aber zugleich ist es ein Mythos der europäischen Geschichte, dass die Kriegsverbrecher zu wenig zur Rechenschaft gezogen worden seien. Die Mehrheit dieser Leute wurde vor Gerichte gestellt und musste sich verantworten. Zudem sehe ich in der Weltgeschichte – so weit kann man tatsächlich gehen – keine Gesellschaft, die sich so intensiv mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinandergesetzt hat wie die bundesdeutsche. Das lässt sich weder von der ehemaligen Sowjetunion sagen, und die hätte einiges aufzuarbeiten, noch von den USA, die die meisten Kriege des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Gibt es Bilder, die Sie in Ihre Träume verfolgen?

Nein, und darüber wundere ich mich selber. Ich habe Zehntausende grässliche Bilder von Gewalt und Elend gesichtet, aber der wissenschaftliche Umgang schafft wohl auch eine gewisse Distanz. 

Auch ein Gerichtsmediziner denkt nicht ständig an die Schicksale hinter seinen Fällen.

Man muss abstumpfen. Wenn ich mich mit jedem Opfer identifizieren würde, könnte ich nachts nicht mehr schlafen. Ich kann gut schlafen. Und man darf nicht vergessen: Das Bild ist nicht die Realität. Schon der Kameramann, der Fotograf hat ja den Apparat zwischen sich und der Realität, und nur durch diese Distanz hält er manche Situation überhaupt aus. Für den Historiker kommt noch etwas hinzu: Was er zu sehen bekommt, ist schon lange Geschichte. Das klingt jetzt simpel. Aber es hilft.


* Dieses Interview wurde im Frühjahr 2020 geführt und ursprünglich veröffentlicht im Magazin «NZZ Geschichte» (Nr. 29, Juli 2020). 

Gerhard Paul

Gerhard Paul, geboren 1951 in Hessen, war bis 2016 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Europa-Universität Flensburg, wo er seit seiner Pensionierung als Seniorprofessor weiterforscht. Paul hat sich mit seinen Arbeiten über den Nationalsozialismus und über die visuelle Kultur einen Namen gemacht. Seine bekanntesten Bücher sind «Bilder des Krieges – Krieg der Bilder» (Schöningh/NZZ Libro 2004) und der von ihm herausgegebene Doppelband «Das Jahrhundert der Bilder» (Vandenhoeck & Ruprecht 2008/2009), in dem über hundert Autoren prägende Bilder des 20. Jahrhunderts untersuchen. In «Bilder einer Diktatur» (Wallstein 2020) beleuchtet Paul die Bildwelten der NS-Zeit – jene der Propaganda wie jene des Widerstands.

Daniel Di Falco

Daniel Di Falco ist Historiker und Journalist und lebt in Bern (Schweiz). Er hat sich wissenschaftlich mit der visuellen Kultur, mit der Theorie und der Geschichte der Fotografie beschäftigt. Bis 2019 verantwortlich für Fotokritik im Kulturressort der Tageszeitung «Der Bund», arbeitet er seither als Redakteur von «NZZ Geschichte».

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