In einem Park, der extra für Fototour-Gruppen angelegt wurde, läuft ein als traditioneller Bauer verkleidetes Modell mit einem Büffel unter Banyan-Bäumen hindurch. Der durch brennendes Stroh und eine Nebelmaschine erzeugte Nebel trägt zur Atmosphäre bei. Diese Szene ist eine der beliebtesten bei Reisefotografen. Foto: Gilles Sabrié
Gilles Sabrié im Gespräch mit Andrea Walter — 16.07.2022
Fotos — Gilles Sabrié
Andrea Walter: Herr Sabrié, wie sind Sie auf die Region Xiapu und den dortigen Foto-Tourismus aufmerksam geworden?
Gilles Sabrié: Die Angestellte eines Reisebüros erzählte mir davon. Sie hatte von einem malerischen Fischerdorf in der Provinz Fujian gehört und war selbst dorthin gefahren. Als sie zurückkam, war sie tief enttäuscht: Sie erzählte mir, dass die ganze Region in ein Fotostudio für Touristen verwandelt worden war. Ich hatte von so etwas noch nie gehört und wurde sehr neugierig...
Was bekamen Sie dort zu sehen?
Ich glaube, es war die größte Konzentration von Fotografen, die ich je gesehen habe. Ganze Busladungen von ihnen kamen an einer Stelle an – einige mit den neuesten Kameras, eine auf jeder Schulter, mit langen Objektiven, Tarnmänteln oder National Geographic-Westen, und sie richteten ihre Kameras alle auf dieselbe Stelle, während der Reiseleiter per Funk Anweisungen an die Models in der Ferne gab.
Einer der erstaunlichsten Orte war das Waldgebiet, in dem ein als Bauer von vor 100 Jahren verkleideter Mann wiederholt einen Büffel durch eine künstliche Rauchwolke zog. Das tat er den ganzen Vormittag lang, während eine Gruppe von Touristen die vorherige ablöste.
Wie kam es dazu, dass eine ganze Region zum Freiland-Fotostudio für Touristen wurde?
Ich glaube nicht, dass es eine zentrale Entscheidung gab, den Ort zu einem Foto- oder Touristenziel zu machen. Ich schätze, es war eher eine organische Entwicklung – mit Touristen, die Fotos des Ortes in den sozialen Medien teilten, Einheimischen, die ihre Höfe in Foto-Plätze verwandelten, und dann der lokalen Regierung, die die Region als Foto-Ziel förderte.
Es gibt daher auch nicht eine Eintrittskarte für eine Art Foto-Park, sondern eine Vielzahl von Orten, die unabhängig voneinander betrieben werden. Bei einigen wird kein Eintritt verlangt, aber die Besucher können für die »Modelle« bezahlen, bei anderen kostet der Eintritt etwa 3 Euro. Manchmal ist er auch in einem Paket enthalten, das die Touristen für eine zwei bis dreitägige Foto-Tour bezahlen.
Links: Die 90-jährige Zhong Lianjiao, die der ethnischen Gruppe der She angehört, verdient ihr Geld damit, für Fotos zu posieren. Einige schmücken die Wände ihres Hauses. Die Fotogruppen zahlen ihr normalerweise 100 RMB (ca 14 Euro) pro Termin. Rechts: Drei Männer, die am Strand Fischer spielen und sich dabei fotografieren lassen.
«Reiseziele sind zu einer künstlichen Bühne geworden, zu einer Nachbildung einer idealisierten Welt, die darauf abzielt, den Social-Media-Wahn zu nähren und uns mit der Lüge zu trösten, dass die Welt so ist, wie wir sie uns erträumen.»
Wie hat es sich angefühlt, dort zu sein?
Es hat sehr gemischte Gefühle in mir geweckt. Irgendwie brachte es mich zum Lachen, aber gleichzeitig machte es mich auch traurig. Ich hielt es für das Ende des Reisens, wie wir es kennen.
Reiseziele sind nicht länger Orte, an denen wir die Vielfalt des Lebens erfahren, sondern sie sind zu einer künstlichen Bühne geworden, zu einer Nachbildung einer idealisierten Welt, die darauf abzielt, den Social-Media-Wahn zu nähren und uns mit der Lüge zu trösten, dass die Welt so ist, wie wir sie uns erträumen. Aber das ist wahrscheinlich eine Verwechslung meinerseits. Ich verwechsle Tourismus mit Reisen. Tourismus war schon immer eine Illusion: Man weiß im Voraus, was einen erwartet, und die Einheimischen haben es für einen vorbereitet. Xiapu zieht eine klarere Grenze zwischen einem Reisenden und einem Touristen.
Wissen die Besucher im Voraus, dass die Foto-Welten dort inszeniert sind?
Einige wissen es im Voraus, andere nicht, und es kann tatsächlich sehr enttäuschend sein, wenn sie es herausfinden. Bei jedem Spot stehen Schautafeln mit ikonischen Fotos, um den Besuchern zu zeigen, was sie aufnehmen sollten. Dieselben Bilder sind in Broschüren, auf Websites und Plakatwänden auf der Straße zu sehen. Wer dort ist, weiß also, worauf er sich einlässt. Es gibt keine Überraschungen und es kann gut sein, dass die Besucher auch enttäuscht sind, wenn das, was sie vor Ort zu sehen bekommen, nicht mit den Fotos übereinstimmt, die sie zuvor gesehen haben.
Für wen fotografieren die Besucher?
Ich habe mich oft gefragt, wo all diese Bilder landen! Viele veröffentlichen sie auf »WeChat« – der chinesischen App, die eine Art Mischung aus Whatsapp und Facebook ist. Einige erwähnen, dass das alles inszeniert ist, die meisten nicht…
Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht – insbesondere als Fotojournalist? Hat sie Ihren Glauben an die Glaubwürdigkeit von Bildern verändert?
Mein Glaube an die Glaubwürdigkeit von Bildern hat sich dadurch nicht verändert. Inszenierte Fotos gibt es seit den Anfängen der Fotografie – und die technischen Beschränkungen der frühen Fotografie machten die Inszenierung notwendig.
Es gibt viele Möglichkeiten, Bilder zu machen, keine guten oder schlechten. Es geht vielmehr um den Kontext, in dem die Fotos präsentiert werden. Wenn das Foto des Bauern mit seinem Büffel in einer Zeitung als Illustration des ländlichen Lebens in China veröffentlicht wird, ist es vollkommen falsch.
Die Verantwortung liegt sowohl beim Fotografen, der in der Bildunterschrift klar angeben sollte, unter welchen Bedingungen das Foto aufgenommen wurde, als auch beim Bildredakteur, der die Herkunft des Bildes und die Vertrauenswürdigkeit der Quelle überprüfen sollte.
Chinesische Nachrichtenagenturen verwenden häufig inszenierte Fotos für Propagandazwecke. Diese Fotos werden dann von westlichen Fotoagenturen weiterverbreitet, die davon ausgehen, dass chinesische Fotoagenturen nach denselben Regeln arbeiten wie sie. Das ist ein Irrtum. Der Redakteur ist verantwortlich, nicht der Fotograf.
Eines der bekanntesten Fotos aus China, das in vielen westlichen Reisemagazinen verwendet wird, ist das eines alten Fischers auf einem Floß, der Kormorane zum Fischen einsetzt. Nun, die Menschen haben schon vor Jahrzehnten aufgehört, Kormorane zum Fischen zu benutzen, und der Fischer ist auch ein bezahltes Model. Die Touristen kommen in der Erwartung, ihn zu sehen.
Redakteure finden diese Art von Fotos schön, und die Fotografen geben den Redakteuren, was sie wollen. Warum sollte man den Traum zerstören? Die Touristen kommen weiterhin dorthin. Touristen sind keine Fotojournalisten. Deshalb sind sie auch nicht an ethische Regeln gebunden. Spielt es für sie eine Rolle, ob der Fischer eine Fälschung oder echt ist? Ich bin mir nicht sicher.
Eines der beliebtesten Reiseziele für Touristen ist Disneyland. Vielleicht wollen wir, dass die Welt zu Disneyland wird. Wir alle sind für diese alternative Realität, die wir schaffen, verantwortlich: der Tourist, der Leser, der Fotograf und der Redakteur. Hier geht es nicht so sehr um die Glaubwürdigkeit der Fotografie, sondern vielmehr darum, wie wir reisen, wonach wir suchen, wenn wir fremde Orte besuchen...
«Spielt es für die Touristen eine Rolle, ob der Fischer eine Fälschung oder echt ist? Ich bin mir nicht sicher. Eines der beliebtesten Reiseziele ist Disneyland. Vielleicht wollen wir, dass die Welt zu Disneyland wird.»
Gibt man bei Google das Stichwort »Xiapu« ein, erhält man zahlreiche Bilder jener inszenierten Szenen, etwa von Fischern, die Netze einholen. Stammen die Bilder denn alle von den Foto-Spots oder wird in der Gegend noch echte Fischerei betrieben?
Es wird in der Gegend noch echte Fischerei betrieben und die Arbeit der Fischer kann sehr fotogen sein. Ich habe einige Fotos von Arbeitern gemacht, die geerntete Seegurken dämpfen – das war ziemlich beeindruckend. Aber die Touristen wollen nur das wiederholen, was sie schon gesehen haben. Da ist keine Neugierde und was ihnen an den Foto-Spots angeboten wird, ist sicherer. Es gibt es in der Gegend übrigens auch einige recht spektakuläre religiöse Volksfeste, doch keines davon ist Teil der Foto-Touren.
Die gespielten Szenen grenzen oft an Kitsch, etwa die von dem Bauer mit dem Büffel. Gibt es solch ein Landleben in der Gegend überhaupt noch? Und wenn ja, wie sieht das »echte« aus?
Das Landleben in der Region ist recht lebendig – es werden Tee, Reis und Früchte angebaut. Allerdings haben die Bauern schon vor langer Zeit aufgehört, Büffel zu halten. Die einzigen Büffel, die es noch gibt, sind die für die Fotos.
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