Im Kopf

Müller-Lyer und die Welt, die wir sehen 

Zwei gleich lange Linien –unterschiedlich lang wahrgenommen

Bereits seit 130 Jahren beschäftigt das Phänomen die Fachwelt: Je nachdem, ob die Winkel nach innen oder außen weisen, werden zwei gleich lange Linien unterschiedlich lang gesehen. Ganz egal, ob die Linien horizontal oder vertikal dargestellt werden. Und selbst wenn wir wissen, dass beide Linien gleich lang sind, können wir nicht anders, als sie trotzdem als unterschiedlich lang wahrzunehmen.

Text — Matthias Steinke – 18.08.2021

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Die Müller-Lyer-Täuschung: Zwei gleich lange Linien, die von Winkeln eingeschlossen sind, werden unterschiedlich lang wahrgenommen, je nachdem, ob die Winkel nach innen oder außen weisen. Zeigen die Winkel nach außen, erscheint die Linie kürzer, als wenn sie nach innen weisen.

Die Müller-Lyer-Täuschung, die zur Klasse der geometrisch-optischen Täuschungen zählt, lässt sich ganz einfach beschreiben

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Als der deutsche Psychiater Franz Carl Müller-Lyer 1889 im «Archiv für Anatomie und Physiologie» einen Artikel über «Optische Urteilstäuschungen» publizierte, konnte er kaum annehmen, dass die wohl bekannteste optische Täuschung, die seinen Namen trägt und oben abgebildet ist, noch 130 Jahre später Scharen von Psychologen beschäftigen würde. Noch verblüffender ist, dass es bis heute keine allgemein akzeptierte Erklärung für das Phänomen gibt. Allein zwischen dem Veröffentlichungsdatum und 1902 wurden zwölf unterschiedliche Theorien hervorgebracht, von denen die meisten Parallelen in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur finden. Im Jahr 1986 wurden in einer Monografie über 1100 verschiedene akademische Studien zum Thema identifiziert.

Dabei lässt sich die Müller-Lyer-Täuschung, die zur Klasse der geometrisch-optischen Täuschungen zählt, zunächst ganz einfach beschreiben: Zwei gleich lange Linien, die von Winkeln eingeschlossen sind, werden unterschiedlich lang wahrgenommen, je nachdem, ob die Winkel nach innen oder außen weisen. Zeigen die Winkel nach außen, erscheint die Linie kürzer, als wenn sie nach innen weisen. Dabei ist es egal, ob die Linien horizontal oder vertikal dargestellt werden und auch, ob der Betrachter weiß, dass die Linien gleich lang sind.

Wahrnehmung gibt die Welt nicht objektiv wieder

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Die Müller-Lyer Täuschung wird realen Bildern überlagert, um zu veranschaulichen, wie die Erfahrung des Erlernens der Perspektive in natürlichen visuellen Umgebungen visuelle Täuschung hervorrufen kann.

Dies hat zugleich philosophische Implikationen und praktische Konsequenzen: Durch das Erleben der Täuschung wird uns bewusst, dass unsere Wahrnehmung die Welt nicht objektiv wiedergibt. Die Sinne filtern die Welt, das Gehirn bewertet die Ergebnisse dieses Filterns und im Zusammenspiel gleichen Sinne und Hirn diese Reizinterpretationen mit der physikalischen Realität ab. Der Akt der Wahrnehmung ist also ein «Für-Wahr-Nehmen», die aktive Konstruktion einer mentalen Repräsentation der Welt. Diese Repräsentation erscheint uns normalerweise so nahtlos und gesetzmäßig, dass es schwer vorstellbar ist, dass unsere Wahrnehmung nur eine Darstellung der Realität ist und nicht die Realität selbst. Optische Täuschungen sind gewissermaßen der Indizienbeweis dafür, der uns dazu bringt, unseren Zugang zur Realität in Frage zu stellen.

Deshalb haben optische Täuschungen für die Geschichte der Psychologie eine besondere Bedeutung. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Müller-Lyers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Psychologie gerade von der Philosophie emanzipiert und trachtete danach, sich als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Dabei ging es vornehmlich darum, die experimentelle Strenge der physikalischen Wissenschaften auf die Untersuchung psychischer Phänomene, wie etwa der Wahrnehmung, anzuwenden. Dies war jedoch leichter gesagt als getan.

Erklärungen von visuellen Phänomenen gehen meist von grundlegenden Prinzipien aus, die auf der Physik des Lichts, der Physiologie unserer Sinnesreaktionen, Modellen darüber, wie das Gehirn sensorische Informationen verarbeitet, oder auf psychologischen bzw. Verhaltensprinzipien beruhen, die unsere Wahrnehmungsinterpretation der Welt bestimmen. Jede der Analyseebenen liefert unterschiedliche Erkenntnisse zu den meisten Illusionen. Die unterschiedlichen Erklärungen führen seither jedoch zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Forschern bezüglich den zugrunde liegenden Ursachen einer Täuschung. Die meisten theoretischen Ansätze erscheinen plausibel genug, um ihren Ausschluss als potenzielle Erklärung zu verhindern.

«Wenn das Auge von einem Optiker angefertigt worden wäre, dann müsste man ihm dieses zurückgeben.» – Hermann von Helmholtz

Erklärungsansätze für die Müller-Lyer-Täuschung

Dies gilt auch für die verschiedenen Erklärungen der Müller-Lyer-Täuschung. Der vielleicht häufigste Erklärungsansatz folgt Armand Thiéry (1895) und Richard Gregory (2009), wonach die Unterschiede in der wahrgenommenen Linienlänge aus einer falschen Anwendung von perspektivischen Hinweisen resultieren. Die Langlebigkeit dieser Erklärung erscheint überraschend, denn es wurden immer wieder Gegenbeispiele publiziert, die nicht auf diese Weise erklärt werden können.

Zugleich war Thiérys Erklärung jedoch mit anderen Wahrnehmungsbeschreibungen konsistent, weshalb sie eben nicht vollständig ausgeschlossen werden konnte. Die Situation der Erklärung optischer Täuschungen ist so entmutigend, dass einige Forscher vorgeschlagen haben, die Illusionen komplett aus der Forschung auszuschließen. Aber selbst dieser wissenschaftliche Fatalismus ist nicht wirklich neu, wenn man sich einige Bemerkungen aus der Frühzeit der Wahrnehmungsforschung anschaut.

So wird dem deutschen Physiologen und Physiker Hermann von Helmholtz der Satz zugeschrieben: «Wenn das Auge von einem Optiker angefertigt worden wäre, dann müsste man ihm dieses zurückgeben.» Und Müller-Lyers Namensvetter Aloys Müller schrieb 1927 in seinem «Versuch einer phänomenologischen Theorie des Psychischen», dass «fast der ganze Sehraum eine Summe von geometrisch-optischen Täuschungen» ist.

Wenn wir nun einen Schritt zurücktreten, können wir jedoch sehen, dass optische Täuschungen uns zumindest die Bedingungen zeigen, unter denen sich das visuelle System unerwartet verhält. Illusionen sagen also etwas darüber aus, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, auch wenn wir vielleicht noch nicht verstehen, wie die Illusion zustande kommt. Zudem erlauben die Fortschritte in den bildgebenden Verfahren und der Elektrophysiologie neue Wege, um zu untersuchen, wie das Gehirn unsere Wahrnehmungswelt konstruiert.

Beispielhaft nun zwei Bereiche, in denen die Müller-Lyer-Täuschung eine besondere Rolle spielt: zum einen die Untersuchung der Illusion bei anderen Völkern und Kulturen (cross-cultural studies), zum anderen die Nutzung der Müller-Lyer-Täuschung im Alltag am Beispiel der Mode.

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Die Welt der Zulus wird als «Kreis-Kultur» beschrieben: traditionell sind ihre Hütten rund, sie pflügen ihr Land nicht in geraden Furchen, sondern in Kurven, und kaum etwas in ihrer Umgebung weist Ecken oder gerade Begrenzungen auf: Ein Zulu-Kraal in Südafrika, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaffir_kraal.jpg

Der Streit zwischen Nativisten und Empiristen

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Der königliche Kral des Zulu-Königs Dingane (1795-1840), mit den königlichen Familienquartieren und dem Harem an der Spitze des großen Kreises. Außerhalb des Kreises, die militärischen Krals. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_royal_kraal.jpg

Schon früh in ihrer noch jungen Wissenschaftsgeschichte haben Psychologen den interkulturellen Vergleich gesucht, um Erkenntnisse in ihrer Disziplin zu gewinnen. Dabei ging es nicht selten – zumindest als Hintergrundfolie – um einen Grundlagenstreit der Wahrnehmungspsychologie zwischen den sogenannten Nativisten und den Empiristen.

Die Tatsache, dass Bewertungen eines variierenden Reizes über einen weiten Streuungsbereich konstant bleiben, ist ein Phänomen, das als «Wahrnehmungskonstanz» bezeichnet wird. So werden etwa Personen als gleich groß wahrgenommen, unabhängig davon, ob sie aus der Nähe oder aus der Ferne betrachtet werden. Die Bilder auf der Netzhaut verändern sich, aber die wahrgenommene Größe nicht. Nativisten erklären solche Wahrnehmungsphänomene mit der Struktur des Nervensystems, also mit angeborenen, nativen Eigenschaften.

Empiristen glauben dagegen, dass die Wahrnehmung von der individuellen Erfahrung abhängig ist, also weder reizbestimmt, noch von der präskriptiven Struktur des Nervensystems. Jede Person gestaltet die eigene Wahrnehmung aktiv als ein Produkt aus momentaner Reizinterpretation und früheren Erfahrungen.
Zu den frühen Vertretern des nativistischen Lagers zählten etwa die Gestaltpsychologen um Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka, die die optischen Täuschungen oder Trugwahrnehmungen als angeborene Art der Wahrnehmung verstanden. Gemäß ihrer nativistischen Theorie sollten alle Menschen mehr oder weniger gleich anfällig für optische Täuschungen sein, es sei denn, verschiedene Menschen hätten unterschiedliche Arten von Nervensystemen.

Dieses Postulat wurde in den 1950er und 1960er Jahren von einer Forschergruppe um Marshall H. Segall angezweifelt. Segall und seine Mitarbeiter gingen davon aus, dass Menschen, die in unterschiedlichen Umgebungen aufwachsen, bei mehrdeutigen Reizen, wie sie die optischen Täuschungen darstellen, zu unterschiedlichen Interpretationen der Reize gelangen. Ihre Studie war die bis heute umfangreichste interkulturelle Wahrnehmungsstudie mit 16 verschiedenen Populationen aus Afrika, Europa, Amerika sowie den Phillipinen.

Unter anderem wurde in der Studie die sogenannte «Carpentered-World-Hypothesis» untersucht, die davon ausgeht, dass Menschen, die in einer visuellen Umwelt mit vielen langen Parallelen (zum Beispiel Straßen) und rechtwinkligen Ecken leben (wie man sie bei Häusern und Möbeln findet), über eine andere Wahrnehmung verfügen als Menschen, die in einer ausgeprägt aperspektivischen Umwelt zuhause sind. Mittels der Müller-Lyer-Täuschung (und anderer geometrisch-optischer Täuschungen) wurde tatsächlich festgestellt, dass diese Unterschiede bestehen.

So waren beispielsweise die Zulus im südlichen Afrika im Vergleich zu Europäern und Amerikanern nahezu gar nicht von der Müller-Lyer-Täuschung betroffen. Die Welt der Zulus wird als «Kreis-Kultur» beschrieben: Traditionell sind ihre Hütten rund, sie pflügen ihr Land nicht in geraden Furchen, sondern in Kurven, und kaum etwas in ihrer Umgebung weist Ecken oder gerade Begrenzungen auf.

Wer nun glaubt, dass der Grundlagenstreit zwischen Nativisten und Empiristen mit dieser Studie zu einem Ende kam, sieht sich getäuscht, denn die Nativisten versuchten ihrerseits, die Ergebnisse von Segall weiterhin mit Unterschieden in Anatomie, Physiologie und Nervensystem weg zu erklären. Ohne dies vertiefen zu wollen, sind wir hier plötzlich wieder sehr nah an Diskursen, von denen zu hoffen war, dass sie mit dem Untergang des Nationalsozialismus ausgestorben wären. So wird in einigen nativistischen Studien auf Rassen- oder völkische Unterschiede rekurriert, was zumindest einem deutschen Leser mehr als Unbehagen bereitet. Gleichwohl zeigt sich darin auch, dass ein scheinbar unbedeutendes Thema wie die optischen Täuschungen durchaus bedeutsam im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs sein kann.

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Afrikanische Kralhütten in Colenso, Südafrika, fotografiert von Geoffrey L. Parsons, 1905. Britische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, Quelle: wellcomecollection.org

Müller-Lyer im Alltag

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Kazunori Morikawa hat in Studien festgestellt, dass ein hochgeschnittener Badeanzug die Beine länger erscheinen lässt. Die Y-förmigen Konturen, die durch die hochgeschnittenen Beinöffnungen und die Innenseiten der Beine gebildet werden, ähneln einer Müller-Lyer-Täuschung, allerdings nur mit einem Flügelpaar am Ende. Dass der Müller-Lyer-Effekt auch mit nur einem Flügelpaar funktioniert, ist bekannt. Quelle: Japanese Psychological Review 2012, Vol.55-3

Auch außerhalb der akademischen Welt haben die geometrisch-optischen Täuschungen und die Müller-Lyer-Illusion Interesse gefunden. Speziell im Bereich der Mode werden immer wieder Produkte erfunden und beworben, die direkt auf die Wirkungen von optischen Illusionen setzen. Ob Kleider, die schlank aussehen lassen, Stiefel, die Beine länger erscheinen lassen oder Jacken, die jünger machen, stets geht es um optische Täuschungen.

Kazunori Morikawa hat dies 2003 und 2012 in Studien unter anderem auch hinsichtlich des Müller-Lyer-Effekts untersucht. Wie das unten stehende Bild offensichtlich zeigt, lässt ein hochgeschnittener Badeanzug die Beine länger erscheinen. Die Y-förmigen Konturen, die durch die hochgeschnittenen Beinöffnungen und die Innenseiten der Beine gebildet werden, ähneln einer Müller-Lyer-Täuschung, allerdings nur mit einem Flügelpaar am Ende.

Dass die Müller-Lyer-Täuschung auch mit nur einem Flügelpaar funktioniert, ist bekannt. Morikawas Studie ergab, dass seine Probanden die Beine des Modells beim hochgeschnittenen Badeanzug im Schnitt um fünf Prozent länger wahrnahmen, als bei der tiefgeschnittenen Variante.

Dieser kleine Exkurs zu Müller-Lyers Strichzeichnung lässt uns eine Ahnung davon gewinnen, auf welch fragilem Fundament unsere Wahrnehmungskonstruktionen stehen. Dies zu verinnerlichen, lässt uns die Welt mit anderen Augen sehen.

Matthias Steinke
Matthias Steinke bewegt sich mit Vorliebe zwischen Jazz, Neurowissenschaften und postmoderner Literatur. Er lebt und arbeitet als Organisationsberater in Berlin. Steinke besitzt langjährige Führungserfahrung in globalen Unternehmen der IT und Telekommunikation und ist bei ReVue verantwortlich für die Rubrik «Im Kopf». 

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