Machtvolle Zeitmaschinen – Reenactments von Presseikonen in Pädagogik, Kunst und Fotografie

Text – Gerhard Paul — 21.10.2023

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«Ich bin Aylan Kurdi» so lautet die Solidaritätsbekundung von Ai Weiwei zu diesem Foto. Es zeigt den berühmten Künstler in der Körperhaltung des syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, der im September 2015 im Alter von drei Jahren bei der Flucht übers Meer ertrunken und in der Türkei an den Strand gespült worden war. Aufgenommen hat das Bild der Fotograf Rohit Chawla für das Magazin «India Today». (Foto: India Today Group)

Wie Vergangenes
mit Hilfe von Bildern wiederbelebt wird

Unter Reenactments versteht man Nachstellungen vergangener, gesellschaftlich relevanter Ereignisse oder medialer Vor-Bilder, etwa um näher an die damaligen Geschehnisse heranzurücken und das Vergangene ästhetisch zu erfahren, aber auch um Distanz zu den Szenen einzunehmen oder sie zu verfremden. Der Bild-Historiker Gerhard Paul erklärt die unterschiedlichsten Varianten und ihre möglichen Ziele.

Missbrauch eines tragischen Symbols?

Das vielleicht verstörendste Beispiel eines künstlerischen Reenactments stammt von dem indischen Fotografen Rohit Chawla, der das Bild im Auftrag der indischen Wochenzeitung «India Today» aufgenommen hat. Das Foto zeigt den weltweit bekannten chinesischen Künstler Ai Weiwei im Januar 2016 in der Gebärdenfigur des toten dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, der im September 2015 bei der Überfahrt nach Griechenland ertrunken und am Strand von Bodrum in der Türkei angeschwemmt worden war.
 
Das Bild der kindlichen Leiche am Strand war als tragisches Symbol der Flüchtlingskrise von 2015 um die Welt gegangen. Der Fotograf stellte die Szene mit Hilfe von Ai Weiwei nach, allerdings am Strand der griechischen Insel Lesbos und nicht am Originalschauplatz. Die Dominanz der erwachsenen Figur in der Aufnahme führte in Folge dazu, dass die Presse und selbst die Agenturen, die das Foto vertrieben, das Copyright fälschlicherweise häufig Ai Weiwei und nicht dem Fotografen und der Wochenzeitung «India Today» zuordneten.
 
Es verwunderte daher nicht, dass auch die Kritik an dem Reenactment in erster Linie Ai Weiwei traf. Das Foto sei «schamlos», befand etwa die Tageszeitung «Die Welt» in Deutschland. Der Künstler solle sich entschuldigen, forderte das US-Kunstmagazin «Hyperallergic».
 
Der «Kurier» aus Wien wurde konkreter: Die Wiederholung des Motivs füge dem Foto «weder eine kritische Reflexionsebene noch gesteigerte Dringlichkeit hinzu: Das zum fast idyllischen Landschaftsfoto überhöhte Bild bestätigt zunächst nur, dass manche Fotos einfach ‹funktionieren› und dass in den Händen von Ai Weiwei alles Teil des Betriebssystems Kunst werden kann.» Mit dem Ziel, Kunst und Realität stärker miteinander zu verzahnen, sei der Künstler «diesmal aber gescheitert».

Die Lust an performativen Reinszenierungen

Die Macht von Bildern, besonders von Presseikonen der Zeitgeschichte, hat Künstler und Künstlerinnen immer wieder irritiert und herausgefordert. Insbesondere in der zeitgenössischen Kunst der letzten drei Jahrzehnte lässt sich eine geradezu «unheimliche» Lust an performativen Reinszenierungen historischer Ereignisse beobachten. Die Ausstellung «History Will Repeat Itself» in Dortmund und Berlin beleuchtete 2007 erstmals überblicksartig Strategien künstlerischer Reenactments und stellte die Positionen von 22 internationalen Künstlern vor.

Als Reenactment wird in der bildenden und darstellenden Kunst die Nachstellung vergangener, gesellschaftlich relevanter Ereignisse oder medialer Vor-Bilder bezeichnet. Reenactments fungieren dabei als eine Art Zeitmaschine: Sie wiederholen beziehungsweise reanimieren Vergangenes in Zeit und Raum aus der Perspektive der Gegenwart. Die teilhabende Rekonstruktion von Geschichte soll – so die Theorie – den Reenactors wie ihren Zuschauern eine ästhetische Erfahrung des Vergangenen am eigenen Körper und ein gemeinsames Live-Ereignis ermöglichen.

«Reenactments fungieren als eine Art Zeitmaschine: Sie wiederholen beziehungsweise reanimieren Vergangenes in Zeit und Raum aus der Perspektive der Gegenwart.» Gerhard Paul

Können Bilder Energien konservieren?

Eine historische Form des Reenactments war das lebende Bild – in der Kunstgeschichte auch als «Tableau vivant» bekannt. Als solche bezeichnete man die möglichst detailgetreue Darstellung von bekannten Werken der Malerei und der Plastik durch lebende Personen.
 
An die Stelle von Gemälden der Kunstgeschichte traten im ausgehenden 20. Jahrhundert fotografische Ikonen, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Akteuren wie Betrachtern soll durch ihre Nachstellung die Möglichkeit des physisch-räumlichen Eintauchens in ein fotografisch festgehaltenes Bildgeschehen ermöglicht werden: in seine Handlungskonstellationen, in seine Bildstrukturen, in die Positionen der Produzenten und so weiter.
 
Dabei gehen die Akteure wie einst Aby Warburg davon aus, dass es sich bei ihren fotografischen Vorlagen um so etwas wie «Energiekonserven» handelt, also um Bildformeln, die über Zeit- und Kulturgrenzen hinweg funktionieren und durch ihre zeithistorische Brisanz zu Sinnbildern etwa von Leid, Trauer, Schmerz und so fort geworden sind.
 
Wie im Tableau Vivant wird dabei die zweidimensionale Ebene verlassen und das Bild oder ein Körper zurück in ein dreidimensionales Raum- beziehungsweise Körperbild überführt. Als rituelle oder experimentelle Wiederholungen zielen solche Reinszenierungen zumeist auf kollektive Prozesse der Erinnerung und Identitätskonstruktion ebenso wie auf affirmative oder kreative Prozesse der Aktualisierung, Neubefragung und Reflexion von historischen Ereignissen. Medien des Reenactments können sowohl Foto- und Filmkameras oder auch die Körper der Reenacteurs sein.
 
So unterschiedlich die künstlerischen und fotografischen Reenactments im Einzelnen sind, so geht es ihnen doch nicht einfach nur um das möglichst wirklichkeitsgetreue Nachstellen von Vergangenem, sondern um eine kreative, zumeist verfremdende Neugestaltung von stattgefundenen Ereignissen etwa durch die Veränderung von Schauplätzen, Kontexten, Kleidung, Gesten und so fort. Im Idealfall kann ein Reenactment ein bewussteres Wahrnehmen von historischen Bildern und Situationen ermöglichen.

«Im Idealfall kann ein Reenactment ein bewussteres Wahrnehmen von historischen Bildern und Situationen ermöglichen.» Gerhard Paul

Worum geht es – die Erfahrung oder das Produkt?

In der Psychologie werden solche Formen des Wiedererlebens beziehungsweise der Nachhallerinnerung, die durch einen Schlüsselreiz – etwa ein Bild oder ein Geräusch – hervorgerufen werden und eine vergangene Situation auch gefühlsmäßig wiedererlebbar machen, als «Flashbacks» bezeichnet. Mit ihnen arbeiten gleichermaßen Psychotherapeuten wie Filmregisseure, um Vergangenes individuell oder kollektiv zu reaktivieren und zum Gegenstand von Diskursen zu machen.
 
Reenactments lassen sich nach prozess- und produktorientierten Ansätzen unterscheiden, also danach, ob bei ihnen mehr der Akt des Machens und die dabei gemachten Erfahrungen im Vordergrund stehen oder eher das künstlerische Produkt und die Kommunikation darüber.
 
Zum ersten Bereich zählen Reenactments mit lebenden Personen etwa in der Museumspädagogik, in der Seniorenarbeit oder im Geschichtsunterricht. Freie Theatergruppen haben sich in jüngster Vergangenheit so etwa Reinszenierungen von markanten Presseikonen wie dem Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau oder dem Sterben des von Polizeikugeln getroffenen Studenten Benno Ohnesorg 1967 in Berlin vorgenommen, um mit ihnen museumspädagogische Projekte zu begleiten und Vergangenheit multimedial erlebbar zu machen.

Im schottischen Glasgow machte 2008 ein Projekt des Künstlerkollektivs «Henry VII’s Wives» mit Senioren unter dem Titel «Iconic Moments of the 20th Century» von sich reden, zu dem diese durch eine Installation des österreichischen Künstlers Christian Eisenberger in ihrer Stadt inspiriert worden waren. Nach langen Gesprächen und eigenen Recherchen reinszenierten die Senioren bekannte historische Fotos, so auch das Bild von der Erschießung eines Vietcong-Kämpfers auf offener Straße 1967 in Saigon oder das Foto des sogenannten «Napalm Girls» des Fotografen Nick Ut von 1972, für das dieser später den «Pulitzer-Preis» erhielt.

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Im Rahmen des Projektes «Iconic Moments of the 20th Century» reinszenierte das Künstlerkollektiv «Henry VIII’s Wives» 2008 in Glasgow mit Senioren das Bild des «Napalm-Mädchens» Kim Phuc Phan Thi und anderer Kinder, die nach einem Napalm-Angriff 1972 auf das vietnamesische Dorf Trang Bang flohen. Kim Phuc Phan Ti war dabei nackt und ihr Körper schwer verbrannt. Das ikonische Foto, das als Vorlage dieser Reinszenierung diente, stammt von dem vietnamesisch-amerikanischen Fotografen Nick Ut. (Foto: Henry VIII's Wives art collective)

Reenactments im Geschichtsunterricht

Im Geschichtsunterricht und in Geschichtstheaterprojekten ist das Reenactment als Hybrid zwischen Geschichtswissenschaft, Freizeitaktivität und Kunst ein bisher eher selten genutztes Vermittlungsformat für jene nachwachsende Generation, die durch ihre Mediensozialisation über trockenes Buchwissen nur schwer einen Zugriff auf die Historie findet.
 
Nach Melanie Hinz, Professorin für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin, kann das Reenactment hier Fachwissen «mit einer heutigen Ereigniskultur, gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit körperlicher und ästhetischer Erfahrung» verbinden. «Geschichte machen» wird dabei laut Hinz «zu einem gemeinschaftlich erlebten Rekonstruktions-Prozess, zu einem Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in den auch Zeitzeugen, sofern sie noch leben, eingebunden werden können, um die Geschehnisse zu beglaubigen und einen Generationenaustausch zu eröffnen.»

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Diese Installation mit dem Titel «Vietnam» war 2008 in Wien zu sehen. Sie stammt von dem österreichischen Künstler Christian Eisenberger und referiert ebenfalls auf das weltberühmte Foto des «Napalm-Mädchens» von 1972 des Fotografen Nick Ut. (© Galerie Krinzinger und Christian Eisenberger, Foto: Christian Eisenberger)

Unterschiedliche Reaktionen, je nach Bekanntheit der Bilder

Eine Mischform von prozess- und produktorientierten beziehungsweise von pädagogischen und künstlerischen Formaten sind Reinszenierungen von Medienikonen mit Figurenschablonen im öffentlichen Raum, bei denen zufällige Passanten mit lebensgroßen Schablonen der auf dem Originalbild abgebildeten Personen konfrontiert werden.
 
Der österreichische Künstler Christian Eisenberger (*1978) zerlegte so etwa die Fotografie des «Napalm-Mädchens» von Nick Ut in seine Einzelteile und gruppierte diese beispielsweise in Glasgow und Wien auf neue Weise im öffentlichen Raum. Im Zentrum von Eisenbergers Aktion standen die Begegnung der Figuren mit den Passanten und deren Reaktionen darauf.
 
Dabei zeigte sich, dass die Bekanntheit des Ursprungsbildes nicht überall gleich war: Während Eisenberger in Glasgow mit einem Vietnam-Veteranen ins Gespräch kam, registrierte er in Wien kaum Reaktionen auf seine Installation.

«Eine Mischform von pädagogischen und künstlerischen Formaten sind Reinszenierungen von Medienikonen mit Figurenschablonen im öffentlichen Raum.» – Gerhard Paul

Ein «Hineinversetzen» in das Bild

Ich selbst habe als Professor für Geschichte in meinen universitären Projektseminaren die Festnahme der letzten Regierung des «Dritten Reiches» durch britische Soldaten 1945 in Flensburg mit Hilfe von schwarzen Figurenschablonen und das Foto des «Napalm-Mädchens» reinszenieren lassen, um das mediale Setting der jeweiligen Aufnahmen zu thematisieren.
 
Durch die Anfertigung und Platzierung der Schablonen im Raum beschäftigten sich die Studierenden intensiv und konkret mit den abgebildeten Personen, den Raumverhältnissen und der Position und Perspektive der anwesenden Fotografen. Dieses Hineinversetzen in das Bild in Gestalt der abgebildeten Personen und der Fotografen erleichterte ihnen ein größeres Verständnis sowohl für die historische Situation als auch für das Zustandekommen von ikonischen Bildern.

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Mit einer berühmten Pressefotografie des sterbenden Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin als Vor-Bild stellte die österreichische Künstlergruppe G.R.A.M. die Szene im Jahr 2001 nach. (Courtesy: Christine König Galerie, Wien)

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Dieses Reenactment der Künstlergruppe G.R.A.M. von 2001 zeigt die Vorführung der  Terroristin Ulrike Meinhof 1972 im Polizeipräsidium Hannover kurz nach ihrer Festnahme. (Courtesy: Christine König Galerie, Wien)

Reenactments als eigene Kunstform

Vor allem aber bildende Künstler praktizierten Reenactments als eigene Kunstform, so etwa die 1987 im österreichischen Graz ins Leben gerufene Künstlergruppe G.R.A.M., die seit 1998 Presseikonen wie das Bild von der Pressevorstellung der soeben festgenommenen RAF-Terroristen Ulrike Meinhof 1972 durch die Polizei oder die Aufnahme des sterbenden Studenten Benno Ohnesorg 1967 in Berlin nachstellte, die Ergebnisse fotografierte und 2011 in einem Buchpublizierte.
 
Die Künstler huldigten dabei nicht einfach dem Original, sondern setzten es durch Verfremdungen in Distanz zu den Betrachtern und relativierten es auf diese Weise. Die Reinszenierungen der Gruppe, so der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich, seien oft bewusst billig und undramatisch gestaltet. Durch die Differenz zum Original sollen die Betrachter über die Autorität und den Wirklichkeitsgehalt der Bilder nachdenken können. Die stets auf Neue reproduzierten Ikonen etwa von Kriegssituationen würden kaum noch eigens wahrgenommen, «sondern eher wie Verkehrszeichen oder Signale aufgefasst».
 
Bei G.R.A.M. sei das Nachstellen eine Form der «Gewaltenkontrolle», da durch die Erfahrung der Reinszenierung eine Distanz zum Original entstehe und dieses noch einmal neu erfahren, bestenfalls entzaubert werde. In der Serie «!» stellte G.R.A.M. Stills eines fiktiven Auftritts Hitlers vor Massenpublikum im Studio von dessen Leibfotografen Heinrich Hoffmann nach, um auf diese Weise Parallelen zur Körpersprache von Künstlern, Popsängern und Unterhaltungskünstlern sichtbar zu machen.

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Auf dem Originalbild ist Adolf Hitler zu sehen, der 1928 von seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmann porträtiert wurde. Die Künstlergruppe G.R.A.M. reinszenierte dieses hier gezeigte Bild im Jahr 2005. (Courtesy: Christine König Galerie, Wien)

Presseikonen und deren bewusste Verfremdung

In Deutschland war es unter anderem der Künstler Elmar Hess (*1966), der das Nachstellen von Presseikonen in seiner Arbeit nutzte. In «Cold War» staffierte er ihm bekannte Menschen als historische Persönlichkeiten aus – etwa als Winston Churchill, John F. Kennedy oder den Grenzpolizisten Conrad Schumann, dessen Flucht über den Stacheldraht 1961 Peter Leibing in einem Foto festgehalten hatte.
 
Konzeptionell bettete Hess die Protagonisten von Leibings Fotografie ironisch überzeichnend in das Drama des Geschlechterkampfes ein, das er als kriegerisches Manöver deutete. Das (Ehe-)Bett geriet zum Ort der Gewalt und zum Kampfplatz, aus dem der Mann in der Haltung des DDR-Grenzpolizisten flieht und dabei noch gefilmt wird.

Die Kunsthistorikerin Heike Catharina Mertens schrieb über «Cold War – The Jump»: «Hess reinszeniert dieses historische Ereignis nicht am Originalschauplatz, sondern in einem Schlafzimmer. Der Soldat, mit Salatschüssel behütet und Staubsauger bewaffnet, springt im Pyjama über ein vom Liebesakt aufgewühltes Bett. Er flieht in den ‹Westen›, wie eine mit Ananas bebilderte Plastiktüte zu verstehen gibt, während im ‹Osten› zwei nur halb geleerte Weingläser vom abrupten Ende der Zweisamkeit zeugen. Der Soldat, auf der Flucht vor der Liebe, reißt sich wie im Original noch im Sprung die Waffe von der Schulter. Die Frau – Ursache des Konflikts – bleibt unsichtbar.

In Leibings Vorlage ist der Fotograf am linken Bildrand noch zu sehen und eröffnet dem Betrachter den freien Blick auf das historische Ereignis. Mit sicherem Gespür hat sich Elmar Hess dieses von Caspar David Friedrich geprägten Motivs der Rückenfigur bedient und lässt sie in seiner Fotografie beinahe die Hälfte des Bildes einnehmen. Der Betrachter wird so zum empathischen Beobachter; der Sprung über das Bett zum erhabenen Augenblick.»

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Der Künstler Elmar Hess stellte die berühmte Fotografie «Der Sprung in die Freiheit» von Peter Leibing (1961) in seiner Installation «Cold War» von 2009 in einem gänzlich anderen Kontext nach: Statt um die Flucht aus der DDR geht es um das Thema Geschlechterkampf. (Elmar Hess: «Cold War – The Jump», 2009, c-print, 190 x 141 cm,  © VG Bild-Kunst, Bonn 2023)

Wenn die Bedeutung umgekehrt wird

Noch radikaler ging der Warschauer Künstler Zbigniew Libera (*1959) zu Werk, der mit seinen Reenactments wiederholt für Schlagzeilen sorgte. In der Serie «Pozytywy» («Positives») von 2002/03 verwendete er als Vorlagen berühmte Fotografien von Krieg und Zerstörung und kehrte deren Bedeutungsinhalt durch Neuinszenierung um, die er dann ablichtete.
 
Aus Negativem wurde «Positives»: Aus dem berühmten deutschen Propagandafoto von der Demontage des polnischen Schlagbaums am 1. September 1939 bei Danzig, das gemeinhin als Ikone des Beginns des Zweiten Weltkriegs gilt, machte er eine Gruppe von Radfahrern in buntem Freizeitdress, die eine Straßensperre aufheben. Daraufhin hagelte es insbesondere in Polen großen Protest.

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Das berühmte nationalsozialistische Propagandafoto von Hans Sönnke, das die Entfernung des Schlagbaumes am 1. September 1939 bei Danzig zeigte und somit zum Symbolbild für den Überfall der Nationalsozialisten auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde, stellte der Warschauer Künstler Zbigniew Libera unter dem Titel «Cyclists (II)» im Rahmen seiner Serie «Pozytywy» (2003) mit Radfahrern nach. (Foto: Zbigniew Libera)

Aus der mit «Leid» betitelten Aufnahme des Kriegsreporters Dmitri Baltermanz – einer Ikone der sowjetischen Kriegsfotografie, die Frauen zeigt, die ihre Angehörigen auf dem Schlachtfeld von Kertsch auf der Krim suchen – wurden auf dem Boden liegende, völlig erschöpfte Sportler eines Cross-Country-Rennens. Ähnlich gerieten auch die Assistenzfiguren auf dem berühmten Kriegsfoto des «Napalm-Mädchens» durch Reinszenierung zu einer harmlosen Freizeitgruppe.

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Auch die Reinszenierung der berühmten Nick-Ut-Fotografie des «Napalm-Mädchens» ist Teil von Zbigniew Liberas Serie «Pozytywy» von 2003. Er zeigt die Protagonisten des Bildes als harmlose, fröhliche Freizeitgruppe. (Foto: Zbigniew Libera)

Verfremdete Papp-Inszenierungen

Wiederum einen anderen Weg der Reinszenierung beschritten die Fotokünstler Thomas Demand, Michael Schirner sowie das Künstler-Duo Cortis/Sonderegger, indem sie die ursprünglich auf ihren Vorlagen abgebildeten Personen bei ihren Reinszenierungen ignorierten und dadurch die Fantasie der Betrachter herausforderten.
 
Thomas Demand (*1964) baute Orte beziehungsweise Artefakte von Presseikonen unter Ausschluss der handelnden Personen oder anderer Anzeichen der dargestellten Ereignisse detailgetreu als Modelle aus Pappe und Papier nach. Darunter etwa: das Badezimmer des Genfer Nobelhotels Beau Rivage, in dem 1987 der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel tot aufgefunden worden war, oder das Gate von Portland, durch das der Attentäter von 9/11 jenes Flugzeug erreichte, mit dem er 2001 in die Twin Towers raste.
 
Anschließend fotografierte Demand seine Produkte und zerstörte die räumlichen Nachbauten. Erst die daraus resultierenden lebensgroßen Fotografien waren die endgültigen Kunstwerke.Dennoch bleibt der ursprüngliche Bildinhalt in diesen so virulent, dass die Betrachter – bei Kenntnis der fotografischen Vorlage – sich die ursprünglichen Akteure vorstellen können. Demands Bilder zwingen ihre Betrachter auf diese Weise, die Bilder der eigenen Erinnerungen aufzurufen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

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Der Fotokünstler Thomas Demand baute das Bad des Hotelzimmers im Genfer Hotel «Beau Rivage», in dem Uwe Barschel 1987 tot aufgefunden wurde, aus Pappe nach, fotografierte sein Werk und veröffentlichte es 1997 unter dem Titel «Badezimmer». Den bedeutsamsten Bildinhalt – den toten Ministerpräsidenten – ließ er dabei weg. (© Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2023, courtesy Sprüth Magers )

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Auch die Aufnahme einer Überwachungskamera am Flughafen von Portland vom 11. September 2001 – auf der im Original auch der Attentäter, der später per Flugzeug in einen der New Yorker Twin Tower raste, zu sehen ist – ahmte der Fotokünstler Thomas Demand 2004 aus Pappe nach, fotografierte die Reinszenierung ohne Protagonisten und gab dem Werk den Titel «Gate». (© Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2023, courtesy Sprüth Magers)

Die Wirkung dessen, was fehlt

Ähnlich wie Demands Nachstellungen sind auch die digitalen Bildschöpfungen des ehemaligen deutschen Werbepapstes Michael Schirner (*1941) konzipiert. Wie Demand eliminierte auch Schirner – in diesem Falle auf digitalem Wege – alle Subjekte seiner ikonischen Bildvorlagen.
 
Die entstandenen Leerstellen füllte er anschließend im Stil seiner Vorlagen neu auf, wodurch völlige neue Bilder – sogenannte «Digigraphien» – entstanden, die er dann zum Teil auf Großplakaten im öffentlichen Raum oder auch in einer Ausgabe der FAZ präsentierte und mit ihnen allgemein für Irritationen sorgte.

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Der deutsche «Werbepapst» Michael Schirner entfernte den Kniefall Willi Brandts 1970 in Warschau aus dem berühmten Bild von Sven Simon und ließ das digital bearbeitete Bild 2010 unter dem Titel «BYE BYE» auf einem Großflächenplakat in Frankfurt am Main anbringen. 

Das Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg zeigte 2010 die Einzelausstellung MICHAEL SCHIRNER, BYE BYE. Ausgestellt wurden großformatige Fine Art Prints von bekannten Pressefotos, aus denen Michael Schirner das zentrale Bildmotiv – z.B. Kniefall Willy Brandts – entfernt hatte. Die Bilder der Ausstellung machte er zu Bildmotiven einer Plakatkampagne auf Großflächen, die in Hamburg, Berlin Düsseldorf und Frankfurt am Main für die Ausstellung warben. (Michael Schirner BYE BYE, WAR70, unter Verwendung eines Fotos von Sven Simon, Ausstellungsplakat in Frankfurt am Main (2010), Foto Kexin Zang)

Dekonstruktionen

Auch Jojakim Cortis (*1978) und Adrian Sonderegger (*1980) bauten historische Orte und Szenen nach, die wir durch Bilder zu kennen glauben, und fotografierten diese dann ab. So etwa: den «Falling Soldier» von Robert Capa von 1936, das Torhaus von Auschwitz-Birkenau nach der Befreiung des Lagers 1945 oder das Foto des sogenannten «Tank Man» vom Tiananmen-Massaker 1989 in Peking. Die beiden Fotokünstler, die sich selbst als «forensische Detektive» bezeichen, sprechen dabei von «plastischer De- und anschließender Neukonstruktionen von Fotoikonen».
 
Bei Cortis/Sonderegger geschieht die Dekonstruktion durch die Einbettung der Szenen in den dreidimensionalen Atelierraum: durch die Kenntlichmachung des Stagings der abgebildeten Szenen – sie selbst nennen es «Making of» – mitsamt der Hilfsmittel, Stative, scheinbar achtlos stehengelassenen Tesafilmrollen, Pappen, Pinsel, Pinzetten und so fort. Atelieransichten umrahmen die Szenen und dokumentieren deren Rückübersetzung in ihre Dreidimensionalität.
 
Die Arbeiten von Cortis/Sonderegger, die sie anlehnend an einen Begriff aus der Filmsprache «Double Take» nennen, sind verstörend, weil sie zeigen, wie fließend die Übergänge von Realität und medialer Vermittlung sind beziehungsweise wie einfach es letztlich ist, Bilder zu re-inszenieren.
 
Ihre Arbeiten provozieren zugleich Fragen, was eigentlich «Authentizität» bedeutet, und ob es überhaupt zulässig ist, mit Bildern von Katastrophen, Gewalt und Tod zu spielen und diese zu nach- und umzustellen. Nicht zuletzt stellt sich beim Betrachten ihrer Arbeiten immer auch die Frage, wo der aufklärerische Wert dieser Arbeiten aufhört und ihr kommerzieller Wert beginnt.

Making of “Death of a Loyalist Militiaman, Córdoba Front, Spa

Die Künstler Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger ahmten das berühmte Foto «Falling Soldier», im Original 1936 von Robert Capa aufgenommen, in ihrem Atelier nach. Anschließend fotografierten sie die Atelierszene inklusive aller Hilfsmittel, die sie für ihre Arbeit verwandten und nannten es ein «Making of». (Foto: Cortis/Sonderegger)

Making of „Tiananmen“ (by Stuart Franklin, 1989), 2013

Auch die weltberühmte Szene des sogenannten «Tank Man», der sich 1989 während des Tiananmen-Massaker vor die Panzer stellt, reinszenierten die Künstler Cortis/ Sonderegger 2014 in ihrem Atelier und fotografierten ihr Werk inklusive der Hilfsmittel, die sie dafür brauchten. Das Originalbild des «Tank man» von 1989, das hier als Vorlage diente, stammt von Stuart Franklin. (Foto: Cortis/Sonderegger)

Dioramen aus Lego

Ungewöhnlich ist gewiss auch eine Performance von unbekannten Lego-Bastlern, die Medienikonen des 20. Jahrhunderts wie den Bruch des Grenzbaumes 1939 bei Danzig mit Lego-Bausteinen nachgebaut haben, dabei exakt auch die Standorte der Kameras berücksichtigend, und die auf diese Weise zustande gekommenen Dioramen dann abfotografierten.
 
Alle genannten Beispiele von Reenactments demonstrieren die große Macht von Fotografien für den Prozess des kollektiven wie individuellen Erinnerns und deren Potenzial für die kritische Dekonstruktion von Geschichtsbildern ob im Museum, in Schule und Universität oder im öffentlichen Raum.


Weiterlesen auf ReVue: «Wir haben das Denken mit Texten gelernt, nicht mit Bildern», Gerhard Paul im Gespräch mit Daniel Di Falco.

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Unbekannte Lego-Bastler bauten den Bruch des Grenzbaumes 1939 durch die Nationalsozialisten aus Lego nach. (Foto: Sammlung G. Paul)

Gerhard Paul

Gerhard Paul, geboren 1951 in Hessen, war bis 2016 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Europa-Universität Flensburg. Paul hat sich mit seinen Arbeiten über den Nationalsozialismus und über die visuelle Kultur einen Namen gemacht. Seine bekanntesten Bücher sind «Bilder des Krieges – Krieg der Bilder» (Schöningh/NZZ Libro 2004) und der von ihm herausgegebene Doppelband «Das Jahrhundert der Bilder» (Vandenhoeck & Ruprecht 2008/2009), in dem über hundert Autoren prägende Bilder des 20. Jahrhunderts untersuchen. In «Bilder einer Diktatur» (Wallstein 2020) beleuchtet Paul die Bildwelten der NS-Zeit – jene der Propaganda wie jene des Widerstands. Ende 2023 erscheint im Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (wbg) in Darmstadt sein neuestes Buch. Es trägt den Titel «Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte».

Zum Weiterlesen

Inke Arns/Gabriele Horn: «History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien) Kunst und Performance» (Ausstellungskatalog)

Bettina Brandl-Risi: «BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert»

Jojakim Cortis/Adrian Sonderegger: «Double Take. Eine wahre Geschichte der Fotografie» (Ausstellungskatalog)

G.R.A.M. «Reenactments 1998–2011»

Melanie Hinz: «Reenactment», in: https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60259/reenactment/

Wolfgang Hochbruck: «Belebte Geschichte: Delimitationen der Anschaulichkeit im Geschichtstheater», in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.): «History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres»

Ulrike Jurreit: «Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment»

Ulf Otto: «Krieg von Gestern. Die Verkörperung von Geschichtsbildern im Reenactment», in: Kati Röttger (Hrsg.): «Welt – Bild – Theater. Politik des Wissens und der Bilder»

Ulf Otto: «Die Macht der Toten als Leben der Bilder. Praktiken des Reenactments als Kunst und Alltag», in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hrsg.): «Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten»

Gerhard Paul: «Icons Art» & «Double Take». Anmerkungen zu einer Berliner Ausstellung, in: Visual History, 18.03.2019, https://www.visual-history.de/2019/03/18/icons-art-double-take/

Michael Schirner: «BYE BYE» (Ausstellungskatalog)

Wolfgang Ullrich: «Re-produktion von Gewaltenkontrolle», in: G.R.A.M. «Reenactments 1998–2011»

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